Es ist das Ziel der Wissenschaft, Mensch, Natur und Gesellschaft besser zu verstehen und daraus eine höhere Lebensqualität zu kreieren. Während Jahr für Jahr große Durchbrüche in der Medizin erzielt werden, so erreichen deren Erkenntnisse nicht unbedingt die breite Gesellschaft. Zusätzlich existieren neben fehlender Erforschung der weiblichen Physis (Stichwort Gender Data Gap) viele Tabus, wenn es um Themen wie die Periode, aber auch mentale Gesundheit und Demenz geht.
Doch die Gesundheitswirtschaft und ihr Einfluss auf unseren kulturellen Umgang mit Körper und Psyche befinden sich im Wandel: Das Zeitalter von Social Media und digitalen Anwendungen versprechen, die Wunden und Leerstellen der bisherigen medizinischen Versorgung zu heilen.

Gesundheit ist nicht gleich Gesundheit

Aus diesem Grund hat das Start-up Vulvani eine Online-Plattform geschaffen, die wissenswerte Informationen sowie Angebote rund um Menstruation, Zyklusgesundheit und Sexualität bündelt. Bedarf gab es für Mitgründerin Britta Wiebe mehr als genug:
“60% der menstruierenden Jugendlichen haben eine negative Einstellung zu ihrer eigenen Periode. Im Schnitt hat ärztliches Fachpersonal nur rund sieben Minuten Behandlungszeit pro Patient*in. Das Ausmaß, in dem die Menschen darunter leiden, reicht von Scham über vermeidbare gesundheitliche Probleme bis hin zum Ausschluss aus dem öffentlichen Leben.”

Auch das Kölner Unternehmen JUPP kennt sich damit aus, jenen Dingen Gehör zu verschaffen, über die nicht gesprochen wird. Die Gründerinnen Lena Schmidt und Corinna Northe bieten Produkte und digitale Informationen rund um ein würdevolles Leben mit Demenz an. Die Krankheit wird oft totgeschwiegen, obwohl sie ein gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, so Schmidt:
“Wir haben 1,6 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland, Tendenz steigend. Viele Familien schämen sich für ihre Situation und versuchen, sie alleine zu bewältigen. Dies führt dazu, dass sich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zurückziehen.”
Musik, Spielideen für Demenzkranke sowie Artikel und Neuigkeiten für Angehörige sind Teile des digitalen Angebots von JUPP, mit dem sie versuchen eine Antwort auf die Tabuisierung zu finden.

 “Wir haben 1,6 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland, Tendenz steigend. Viele Familien schämen sich für ihre Situation und versuchen, sie alleine zu bewältigen. Dies führt dazu, dass sich Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zurückziehen.” 

Enttabuisierung und Aufklärung bewegten auch Diana Huth und Theresa Frank zur Gründung von ACTitude, einer digitalen Plattform zur präventiven Stärkung der psychischen Gesundheit.
“Für die Lücken in der psychischen Gesundheitsversorgung gibt es unserer Meinung nach zwei Gründe: Zum einen ist das deutsche Gesundheitssystem primär kurativ ausgelegt. Hilfe wird also meist erst gewährt, wenn sich Probleme bereits manifestiert haben. Zum anderen sind psychische Erkrankungen immer noch sehr stark stigmatisiert.”

Was digitale Lösungen so attraktiv macht

Vieles, was soziale Stigmata ausmacht, hat auch mit der früheren Angewiesenheit auf analoge Hilfen und Mittel zu tun: Sei es der Gang zur Praxis oder das persönliche Gespräch mit Bekannten über tabuisierte Themen. Digitale Anwendungen hingegen bieten schnelle, unkomplizierte und auch anonyme Informationen und Hilfsangebote für jene, die danach suchen.  Es ist einer der vielen Gründe, weshalb auch Vulvani auf Online-Lösungen setzt, sagt Co-Founder Jamin Mahmood:
“Die Innovation von Vulvani ist die Nutzung von moderner Technik zur Aufklärung von Themen rund um den menstruierenden Körper, welche traditionellerweise analog stattfindet. Wir verstehen Vulvani als eine soziale und gesellschaftliche Innovation, um Tabus zu brechen. Wir sammeln die vielen guten, aber verstreuten Lösungen und Ansätze auf einer zentralen, global zugänglichen Plattform. Denn bisher gibt es keinen globalen E-Learning-Marktplatz rund um das Thema Zyklusgesundheit.”

"Wir verstehen Vulvani als eine soziale und gesellschaftliche Innovation, um Tabus zu brechen."

Bei psychischen Problemen stehen Menschen vor ähnlichen Hürden, da es kaum Hilfestellungen für Alltagsbelastungen gibt und Angst herrscht, offen über mentale Gesundheit zu sprechen. Auch, wenn sie persönliche Angebote nicht ersetzen können und wollen: Digitalisierte Angebote von ACTitude sind daher der logische Schritt, erklärt Gründerin Diana Huth:
“Was es in unseren Augen braucht, sind niedrigschwellige Angebote und dafür eignen sich digitale Formate optimal. Wir beantworten in Podcast, Magazin und auf YouTube die Fragen, auf die Menschen online nach Antworten suchen. Anders als analoge bzw. persönliche Formate sind unsere Inhalte jederzeit verfügbar und anonym nutzbar. Damit erleichtern wir den Zugang zu einem stigmatisierten Thema. Unsere Kurse lassen sich zudem durch ihre kurzen Lektionen in jeden (noch so stressigen) Alltag integrieren.”

Langfristiger Impact durch kluge Innovationen

Der Balanceakt von Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens und dem Anspruch, so vielen Menschen wie möglich helfen zu können, sei hierbei durchaus schwierig, berichtet Diana Huth. Doch wer das Vorhaben systematisch angehe, würde auch das meiste bewirken:
“Wir versuchen neben Gesprächen mit Krankenkassen auch, unser Angebot im betrieblichen Gesundheitsmanagement zu platzieren. Dadurch können Arbeitgeber*innen einen Beitrag zur psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen leisten und für diese fallen keine Kosten an. Das zahlt sich für Unternehmen schnell aus, denn allein in Deutschland entstehen jährlich Kosten in Höhe von rund 103 Milliarden Euro aufgrund psychischer Erkrankungen, die so reduziert werden können.”

“Wir versuchen neben Gesprächen mit Krankenkassen auch, unser Angebot im betrieblichen Gesundheitsmanagement zu platzieren. Dadurch können Arbeitgeber*innen einen Beitrag zur psychischen Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen leisten und für diese fallen keine Kosten an"

Corinna Northe von JUPP sieht das Verbinden von ökonomischen und sozialen Zielsetzungen sogar als Vorteil:
“In unseren Augen bietet es mehr Gestaltungsspielraum und Flexibilität, wenn es klappt, die gesellschaftliche Vision wirtschaftlich auf eigene Beine zu stellen.”

Doch weitaus mehr wäre zukünftig möglich, wenn kreativwirtschaftliche Ansätze stärker gefördert würden, sagt Northe:“Bei öffentlichen Förderungen ist das Potential jedoch erst ausgeschöpft, wenn auch Ideen, die kein klassisches Geschäftsmodell haben, loslaufen können.”

Vielleicht kann bald auch hierfür ein digitales Angebot geschaffen werden. Gesund wäre es allemal.

Fotos: ACTitude, Jupp, Vulvani, cottonbro pexels,  Schall & Schnabel, Pexels

Text: Felix Jung