Die Digitalisierung im Gesundheitssektor boomt. Im dritten Quartal 2024 sammelten deutsche Start-ups Finanzierungen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro ein. Der stärkste Sektor dabei: Health Tech. Doch wem nutzen diese Investitionen wirklich? Noch immer klaffen Lücken in vielen Bereichen des Gesundheitssystems, besonders in Bezug auf weibliche Gesundheit. Die ausgezeichneten Kultur- und Kreativpilot*innen menstruflow und F-50 setzen dort an, wo das traditionelle Gesundheitssystem oft versagt: bei der Behandlung von Menstruationsschmerzen und der Unterstützung von Menschen mit Essstörungen.

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© Polina Sergeeva
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„Das Medical Gaslighting hat mich wütend gemacht“

Polina Sergeeva, Mitgründerin von menstruflow, weiß aus eigener Erfahrung, wie wenig Aufmerksamkeit Menstruationsschmerzen in der Medizin erhalten. Durch den “Gender Health Gap” sind medizinische Innovationen vor allem auf männliche Patientendaten ausgerichtet, häufige Fehldiagnosen bei Frauen und die geringe Erforschung von Krankheiten wie Endometriose sind die Folge. „Mein persönlicher Schüsselmoment war, als ich nach 16 Jahren monatlicher Periodenschmerzen wieder einmal von Ärzt*innen hörte, das dies normal sei”, sagt die Unternehmerin. “Dieses Medical Gaslighting hat mich wütend gemacht, aber auch motiviert.” Die Wut führte zur Entwicklung von ONEflow, einem tragbaren TENS-Gerät, das Menstruationsbeschwerden lindert. “TENS” steht für “Transkutane Elektrische Nervenstimulation”, elektrische Impulse stimulieren dabei Muskeln und Nervenbahnen, um Schmerzen zu verringern. Entwickelt wurde ONEflow in Zusammenarbeit mit der Frauenärztin Dr. med. Ulrike Lange.

Während die Wirkweise von ONEflow schnell erklärt ist, stellt das Produkt für unzählige Menschen den Durchbruch für einen Alltag ohne Schmerzmittel dar. In der Technologie stecke außerdem viel Kreativität, betont Polina Sergeeva: “Bei der Entwicklung von ONEflow haben wir anfangs nur an die Schmerzlinderung gedacht. Doch während des Testens kam die Idee, das Gerät nicht nur funktional, sondern auch ästhetisch, diskret und somit alltagstauglich zu gestalten.” Das Design soll die Nutzer*innen empowern, nicht stigmatisieren, so die Gründerin.

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Bei mentaler Gesundheit gibt es noch viele Missverständnisse und Stigmata

Auch im Bereich der mentalen Gesundheit werden innovative Technologien dringend gebraucht. Denn bisher ist der Weg zu einer Diagnose und wirksamen Therapie mühselig und mit langen Wartezeiten verbunden. Das Start-up F-50 setzt sich dafür ein, Menschen mit Essstörungen niedrigschwellige Hilfe anzubieten. Mit der F-50-App hat das Team von Claudia Decher, Yeray Ros und Caroline Thiel ein digitales Hilfsprogramm entwickelt, das Betroffene sofort nach Registrierung unterstützt sowie einen “F-50-Buddy” zur Seite stellt.

“Im Bereich der mentalen Gesundheit gibt es noch viele Missverständnisse und Stigmata, die Menschen daran hindern, sich Hilfe zu suchen.”

Yeray Ros, Mitgründer von F-50

Die Kreativität der Technologie spiele auch hierbei eine zentrale Rolle, sagt Mitgründer Yeray Ros: „Besonders im Bereich UX-Design geht es darum, Lösungen für echte Probleme zu finden. Unsere F-50-Features haben wir deshalb so intuitiv wie möglich gestaltet”. Neben akuter Unterstützung für die F-50-Nutzer*innen möchte der Unternehmer ein größeres Bewusstsein für die Themen Essstörung und mentale Gesundheit schaffen.

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Dass das Konzept aufgeht, zeigen persönliche Erfolgsgeschichten: „Ein Nutzer erzählte uns, wie sehr unser Programm ihm geholfen hat, mit seiner Essstörung umzugehen und wieder Kontrolle über sein Leben zu bekommen”, sagt Yeray Ros. “Erlebnisse wie dieses berühren und zeigen, dass unsere Arbeit wirklich einen Unterschied macht.”

„Unsere Arbeit ist noch lange nicht erledigt“

Trotz des Erfolgs ihrer Unternehmen sehen Polina Sergeeva und Claudia Decher weiterhin Herausforderungen im Markt. „Eine große Hürde ist die gesellschaftliche Stigmatisierung von Menstruation. Viele Unternehmen und Partner*innen scheuen sich noch davor, das Thema offen zu kommunizieren”, erklärt Polina Sergeeva. “Das erschwert uns den Markteintritt.” Auch aus ihrem Alltag kennt die Gründerin die Problematiken rund um das Thema Menstruation: „Als ich mit dem Schild ‘Periode ist normal’ durch die Straßen von Berlin gelaufen bin, kam eine Frau um die 40 auf mich zu und beschimpfte mich mit den Worten: ‘Ich schäme mich für Sie!’. Dieses Erlebnis hat mir gezeigt, wie tief das Tabu rund um Menstruation noch verankert ist – und dass unsere Arbeit noch lange nicht erledigt ist.” Außerdem bemängelt die menstruflow-Geschäftsführerin, dass Innovationen wie ihre bisher schwierig in bestehende Gesundheitsstrukturen integrierbar seien: „Im Gesundheitssektor fehlt es noch an Akzeptanz für alternative Lösungen. Das erschwert uns den Weg zu den Krankenkassen und in die Regelversorgung.” Claudia Decher von F-50 bestätigt diesen Eindruck: “Für uns ist es nach wie vor herausfordernd, die Menschen zu erreichen, die von unserem Angebot profitieren können.” Zu oft verhindere die Stigmatisierung von Essstörungen, dass Betroffene auf digitale Hilfe wie das Angebot von F-50 zurückgreifen.

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© Polina Sergeeva
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Eine Bewegung, um gesellschaftliche Tabus zu brechen

Ob Menstruationsschmerzen oder Essstörungen – die Arbeit von Start-ups wie menstruflow und F-50 zeigt, wie viel Potenzial in kreativen HealthTech-Lösungen steckt. “Eine Mutter, die das ONEflow TENS-Gerät für ihre Tochter gekauft hat, schrieb mir, dass ihre Tochter zum ersten Mal schmerzfrei zur Schule gehen konnte und wieder Freude am Alltag hat”, erzählt Polina Sergeeva. “Wir verstehen ONEflow nicht nur als Produkt, sondern als Bewegung, um gesellschaftliche Tabus zu brechen.” Auch Caroline Thiel von F-50 hält an der Mission ihres Unternehmens fest: “Wir arbeiten daran, eine Kultur des Verständnisses und der Unterstützung für Menschen mit Essstörungen zu schaffen.” Die Kultur- und Kreativpilot*innen zeigen, was passiert, wenn Technologie nicht nur effizient, sondern auch empathisch eingesetzt wird: Sie kann ein ganzes Gesundheitssystem revolutionieren.