Die Bauindustrie ist eine der umweltschädlichsten überhaupt. Ein Großteil der weltweiten CO2-Emissionen – 37 Prozent, um genau zu sein – sind auf die Bau- und Gebäudewirtschaft zurückzuführen. In Deutschland machen Bau- und Abbruchabfälle zudem 55 Prozent des landesweiten Abfalls aus. Höchste Zeit also, dass sich unternehmerische Lösungen in Sachen Nachhaltigkeit durchsetzen. Zwei Titelträger*innen der Kultur- und Kreativpilot*innen machen es bereits vor: rethink*rotor verbaut alte Rotorblätter, Build Blue greift auf Seegras als Dämmmaterial zurück. Über das Potential kreativer Ideen für den Bau.

Ein zweites Leben für Rotorblätter

Windkraftanlagen sind echte Meisterwerke der Ingenieurskunst. Nicht nur erzeugen sie erneuerbare Energie, ihre Rotorblätter sind korrosionsbeständig, hoch belastbar und gleichzeitig leicht und langlebig. Ina-Marie und Marcin Orawiec, Gründer*innen von rethink*rotor, wollen Rotorblättern deshalb ein neues Leben schenken. Und verwerten sie als Baumaterial wieder, zum Beispiel in Hallengebäuden, Schallschutzwänden oder “blade*pontoons”, künstlichen Inseln. „Wir wollen die Baubranche nachhaltiger machen und dafür die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft etablieren. Nicht nur als Theorie, sondern als praktikable Lösung“, erklärt Marcin Orawiec. Seiner Meinung nach ist hierfür ein radikales Umdenken gefordert. Denn der Ansatz des Recyclings biete nur eine kurzfristige Lösung für das grundlegende Problem, dass Abfall als solches vermieden werden sollte. „In einer Welt, in der Recycling als Allheilmittel gegen Abfallberge und steigende CO2-Emissionen gepriesen wird, übersehen wir die eigentliche Herausforderung: den Übergang von einer linearen zu einer zirkulären Wirtschaft”, erklärt der Architekt. Denn Recycling benötigt seinerseits große Mengen an Energie und führt oft zu minderwertigen Folgeprodukten.

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© rehink_rotor
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Rotorblätter weiter zu verwenden, bietet sich also in vielerlei Hinsicht an. Zudem konnte rethink*rotor nachweisen, dass ihre „re-morphe“ Anwendung der Flügel nicht nur kostengünstiger, sondern auch leistungsfähiger ist als konventionelle Konstruktionen wie Stahlbetonträger. Wer die Rotorblätter als Bauelemente nutzt, spart bis zu 95 % der Emissionen, die bei der Herstellung neu hergestellter Bauelemente anfallen würden. Das Prinzip von rethink*rotor könnte eine ganze Branche umkrempeln und gleichzeitig neue Arbeitsplätze schaffen – etwa in der Logistik, der Demontage und der Wiederaufbereitung. „Es geht nicht nur um Technologie, sondern auch um eine Kultur der Wiederverwertung und des respektvollen Umgangs mit Ressourcen“, fügt Ina-Marie Orawiec hinzu. „Wir stellen uns eine Welt vor, in der Abfall nicht mehr existiert. Stattdessen sind alle Produkte Teil eines ständigen Kreislaufs“, sagt die Architektin und Stadtplanerin.

Doch die Umsetzung dieser Vision erfordert mehr als innovatives Unternehmertum. Auch die Politik muss eingreifen, um ein besseres Umfeld für zirkuläre Wirtschaftsmodelle zu schaffen. Die Idee von rethink*rotor stoße noch immer auf Widerstand in der deutschen Bauindustrie. „Solange Rotorblätter im Kreislaufsystem als ‘Abfall’ und nicht als wertvolles Bauprodukt behandelt werden, haben wir noch einen langen Weg vor uns“, sagt Marcin Orawiec.

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© Volker Bohlmann

Seegras als neuer Baustandard

Auch Vincent Marnitz, Gründer von Build Blue, träumt von einer grüneren Zukunft. Eine, in der die Bauindustrie mit nachwachsenden Rohstoffen arbeitet. An der Ostsee setzt der Unternehmer diese Vision schon heute um. Inspiriert von einer jahrhundertealten norddeutschen Tradition nutzt er Seegras zum Dämmen von Gebäuden. Nachdem das wertvolle Naturmaterial Jahrzehnte lang vom Strand gesammelt und entsorgt wurde, werden seine isolierenden Eigenschaften heute wieder wertgeschätzt. „Der größte Vorteil dieses Rohstoffes ist seine Verfügbarkeit und die Tatsache, dass er lokal und ohne großen Transportaufwand genutzt werden kann“, so Marnitz weiter. Auf der Ostseeinsel Poel wird das organische Material in den Produktionsanlagen von Build Blue zu Baustoffen aufgearbeitet. Als fertiges Produkt ist die Dämmung nicht nur nachhaltig, sondern auch stabil und resistent gegen viele Umwelteinflüsse. “Es ist absolut notwendig, dass bei der Gewinnung nachwachsender Rohstoffe auf den Schutz der Natur geachtet wird”, betont der Gründer. “Genauso wichtig ist es, dass Gebäude stabil, brandfest und sicher gebaut werden.” Beide Kriterien erfüllt Build Blue.

Trotz der vielen positiven Aspekte von Vincent Marnitz’ Innovation stößt auch er auf Hürden bei der Umsetzung: Die Zulassungsverfahren für neue Baustoffe sind in Deutschland sehr bürokratisch, die Prüfkriterien für nachhaltige Materialien oft härter als für konventionelle Baustoffe. „Ein enormer Fortschritt wäre schon erzielt, wenn wir die Hürden für innovative Materialien und Start-ups senken und den Markt für nachhaltige Baustoffe öffnen könnten“, erklärt der Unternehmer.

Ein grüner Blick in die Zukunft

Die Geschäftsmodelle von rethink*rotor und Build Blue zeigen: Nachhaltiges Bauen ist kein Idealismus, sondern machbare Realität. Doch innovative Materialien allein reichen nicht aus, um die Baubranche grundlegend zu verändern. Dazu braucht es bessere Regulierungen, wirtschaftliche Anreize und eine Kultur der Nachhaltigkeit.

„Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft mehr Mut haben, neue Wege einzuschlagen und auch Risiken einzugehen“, sagt Vincent Marnitz von Build Blue. “Leider leben wir in einer Zeit, in der die Angst vor Neuem wächst und die Gesellschaft immer pessimistischer wird.”

Auch für Ina-Marie Orawiec von rethink*rotor ist klar: „Wir müssen einen radikalen Wandel hin zu einer Kultur der Nachhaltigkeit und des zirkulären Bauens schaffen. Nicht nur bereits verbautes Material wie den Glasfaserkunststoff, aus dem ein Rotorblatt hauptsächlich besteht, müssen wir als wertvolle Ressource begreifen. Stattdessen müssen wir den Flügel in seiner Gesamtheit als wertvolle Ressource sehen, die in einer zweiten, dritten oder vierten Umnutzung noch lange Zeit verwendet werden kann.” Ihr Mitgründer Marcin Orawiec ergänzt: „Es geht nicht nur darum, den Bauprozess grüner zu gestalten, sondern die Denkweise in der gesamten Branche zu verändern.” Schaffen grüne Unternehmen wie die beiden Kultur- und Kreativpilot*innen diesen Durchbruch, könnten die Baustellen der Zukunft für Innovation und Ressourcenschonung stehen. Grün statt Grau eben.