#WACHSTUM
#WACHSTUM

Wie groß muss meine Idee werden, damit sie sich durchsetzen kann? Wie groß darf sie werden, damit ich sie noch wiedererkenne? Und wie schlimm werden die Wachstumsschmerzen? Vier Geschichten von Startups auf der Suche nach dem richtigen Maß

#WACHSTUM

Wie groß muss meine Idee werden, damit sie sich durchsetzen kann? Wie groß darf sie werden, damit ich sie noch wiedererkenne? Und wie schlimm werden die Wachstumsschmerzen? Vier Geschichten von Startups auf der Suche nach dem richtigen Maß

#WACHSTUM

Diesen Sommer werden sie cool bleiben. Nicht wie im vergangenen Jahr. Da brach im Juli der Umsatz ein und die Panik aus: Was machen wir, wenn das so bleibt?

Tut es nicht. Das wissen Gerald Dissen, Lionel Palm und Christian Hilse inzwischen. Es liegt einfach an der Saison. Denn mit ihrem Startup Room in a Box stellen sie Möbel her, Möbel aus Pappe. „Und im Sommer kauft halt niemand Möbel. Da sitzen die Leute lieber im Garten oder fahren in den Urlaub.“ Also werden sie diesmal einfach abwarten, bis September, wenn die Zahlen wieder raufgehen: „Mit der Zeit wird man entspannter.“

Die Zeit – das sind inzwischen gut vier Jahre. So lang ist es her, dass Gerald diesen Papphocker auf einer Messe sah und sofort begeistert davon war, wie viele Attribute dieses Sitzmöbel in sich vereinte: stabil, faltbar, günstig, recycelbar. Wenig später lernte er auf einer Studentenparty Lionel kennen und fragte ihn beim Bier: „Hast Du vor dem Studium schon mal einen Job gehabt?“ Lionels Antwort war der Startschuss für Room in a Box: „Ich habe in einem Wellpappen-Werk gearbeitet.“

Schon am Tag darauf stand der Plan: Wir produzieren Möbel aus Pappe. „Wir dachten, wir machen einfach ein paar Faltkonstruktionen und dann läuft das schon.“ So einfach war es dann doch nicht. Denn sie wollten sich von anderen Kartonmöbel-Herstellern unterscheiden. Ihr Produkt sollte aus möglichst wenig Teilen bestehen. Es sollte kompakt sein und so leicht, dass man es als Postpaket verschicken kann. Damit es beim Umzug nur noch heißt: Paket auf – Möbel raus – zusammenstecken – fertig ist die Einrichtung. Room in a Box eben. Das Ganze bitte aus hundertprozentig recyclebarem Material. Stabil musste die Konstruktion natürlich auch sein. Und schick.

Schnell wurde Gerald und Lionel klar: Das sind zu viele Anforderungen für ein Projekt, das man so nebenbei stemmt. Erst als sie ein Gründerstipendium erhielten, konnten sie loslegen. 18 Monate Zeit hatten sie, um die Konstruktion zu entwerfen und den passenden Lieferanten zu finden: „Die Preise variierten teilweise um das 26-fache voneinander.“ Sie mussten einen bezahlbaren Plotter zum Ausschneiden der Pappe finden – und die Frage klären, wie man das 1,5-Tonnen-Ungetüm in ihren Werkraum im zweiten Stock eines Berliner Gründerzentrums bugsiert. Sie holten Christian ins Team, einen gelernten Verpackungsmechaniker, der bereits Erfahrungen im Design von Pappmöbeln hatte. Und schließlich mussten sie überlegen: Wie finden wir Käufer?

Gut, dass es Crowdfunding gibt. Das ist nicht nur ein prima Marketinginstrument, sondern bringt auch gleich erste Umsätze. 100 Bestellungen wollten die Gründer einsammeln, um die erste Kleinserie zu produzieren. Es wurde eine Punktlandung. Die Kampagne endete im Juni 2014 – im selben Monat, in dem ihr Stipendium auslief. Am Ende hatten sie 120 Bestellungen zusammen. „Das war die Bestätigung, dass es funktioniert.“

Aber noch reichten die Umsätze nur zum Überleben. Und dann waren da die Kosten für Materialvorräte, Werkstatt-Miete und Patentanmeldung. Und natürlich: der große Sommer-Schock. Auf den das Team mit einer Kampfansage reagierte: Wachstum, Wachstum, Wachstum!

Die drei entwickelten weitere Produkte: Tische, Weinregale, Whiteboards für Präsentationen. Sie schufen Angebote für neue Zielgruppen: Maßanfertigungen, Konstruktionen für den Messebau. Und sie ärgerten sich jedes Mal, wenn in der Hitze des Gefechts etwas schief ging. Zum Beispiel dieser eine Auftrag, der zeitlich so knapp war, dass sie auf einen anderen Zulieferer umsteigen mussten, um rechtzeitig liefern zu können – und prompt schlechteres Material geliefert bekamen.

„Heute würden wir das Risiko eingehen und sagen: Wir schaffen es nicht mit dieser Zeitvorgabe“, sagen Gerald, Lionel und Christian. Diese Einstellung ist auch eine Folge des Kultur- und Kreativpiloten-Programms. Nerven behalten, nicht zu viel auf einmal wollen – diese Botschaft vermittelten ihnen schon die anderen Teams. „Wir dachten immer, wir sind nicht strukturiert genug. Weil wir immer die Perspektive von Unternehmen eingenommen haben, die schon zehn Jahre am Markt sind. Jetzt konnten wir sehen: Andere Startups arbeiten genauso chaotisch.“

Auch Marketing darf manchmal chaotisch verlaufen, lernten sie. Wenn man, statt Pläne zu machen, einfach jede Möglichkeit nutzt, die sich bietet. So wie beim Bahnstreik, als Gerald per Anhalter reiste. Im Gespräch mit dem Fahrer stellte sich heraus, dass er in einer Werbeagentur arbeitet. „Glaubst Du, dass du uns irgendwie helfen kannst?“ fragte Gerald – und bekam die Kontakte zu der PR-Agentur, die jetzt für Room in a Box arbeitet.

Und sie begriffen, dass sie vielen Startups etwas voraus haben: ein Produkt, das bereits für gute Umsätze sorgt. „Geht hin und melkt die Kuh!“, rieten ihnen die Coaches. Für Nicht-Landwirte: Holt erst aus dem einen Produkt mehr raus, bevor ihr euch mit weiteren verzettelt! Jetzt überarbeiten die drei erstmal ihr Bett und fahren dafür das Marketing hoch. „Die anderen Produkte werden auch weiterentwickelt, aber sie haben jetzt eine viel niedrigere Priorität.“ Und sie reden mit Business Angels über Investitionen. „Eigentlich waren wir dagegen, Geld aufzunehmen“, sagen sie. Aber die Coaches überzeugten sie davon, dass Geld und Erfahrungswerte es leichter machen, sich auf das zu konzentrieren, was wichtig ist. „Das stabilisiert ein Unternehmen.“ Und die Nerven.

FRÜHER GAB ES ÜBERHAUPT KEINE FESTEN ZEITEN. HAUPTSACHE, DIE ARBEIT WURDE GEMACHT.

Manchmal klingen gute Ratschläge ganz banal. Etwa die Sache mit dem Reden am Telefon. Andre Thum steht jetzt dabei immer auf. Mit dem Körper richtet sich auch die Sprache auf, hat er bei den Kultur- und Kreativpiloten gelernt. „Das klingt freundlicher.“ Und er baut bei Vertriebsgesprächen Pausen in seinen Text ein. „Damit der Kunde die Information sacken lassen kann, um sie zu verstehen.“ Wichtig vor allem, wenn es um etwas Technisches geht.

Für Andre und seinen Mitgeschäftsführer Thomas Kekeisen ist das alles noch ziemlich neu. Gemeinsam führen sie in Markdorf das Unternehmen Socialbit. Gegründet 2010, derzeit 11 Mitarbeiter, Jahresumsatz 2013: rund 500.000 Euro. Stetiges Wachstum. Aber Akquise? „Das brauchten wir ja nicht.“

Warum auch über ein Produkt reden, das für sich selbst spricht? Denn Socialbit macht Apps. Und die waren etwas völlig Neues, als Thomas 2009 im Auftrag seines Uni-Profs eine App für dessen iPhone programmierte. Die notwendigen Kenntnisse brachte er sich selbst bei. Neu waren Apps auch noch 2012, als Thomas seinen langjährigen Kumpel, den Wirtschaftsinformatiker Andre in die junge Firma holte. „Eigentlich hatten wir fast ein Monopol. Wenn jemand in Deutschland eine Agentur suchte, die Apps brauchte, rief er meist bei uns an.“ Mercedes rief an, BMW rief an, der VfB Stuttgart, DHL, alle riefen an.

Und mit zunehmender Expertise wuchsen bei Socialbit auch Umsatz und Mitarbeiterzahl. Von ganz allein. Doch um das Jahr 2014 wurde Andre und Thomas klar, dass es so nicht weiterlaufen würde. Da hatten sie den zehnten Mitarbeiter eingestellt. Eine kritische Größe. „Wir konnten uns in zwei Richtungen bewegen: Wir bleiben so groß, wie wir sind. Oder wir werden so groß, dass es auch läuft, wenn mal zwei Leute krank werden.“

„WIR MACHEN APPS“ SAGEN INZWISCHEN AUCH 3000 ANDERE

Sie entschieden sich fürs Wachstum. Und genau genommen hatten sie auch keine Wahl. Denn gewachsen war auch die Zahl der Konkurrenten. „Im deutschsprachigen Raum gibt es heute rund 3000 App-Entwickler.“ Gewachsen ist auch die Notwendigkeit, konstant genügend Aufträge reinzuholen. „Sonst verlieren viele Leute ihren Job.“ Die Konsequenz war klar: Socialbit musste professioneller werden.

Nach innen bedeutet das vor allem: wir brauchen mehr Struktur. Erstmals ernannten Andre und Thomas Teamleiter, jeweils einen für den Bereich iPhone, Android und Web. Die sollten unter anderem für mehr Disziplin sorgen in puncto Arbeitszeit und Deadlines. „Früher gab es überhaupt keine festen Zeiten. Hauptsache, die Arbeit wurde gemacht. Aber wenn zwei zusammenarbeiten müssen und der eine ist schon weg, wenn der andere kommt, wird es schwierig.“ In einem Fall brach dadurch bereits ein Auftrag weg. Ähnlich sah es bei Abgabeterminen aus. Darum führten sie feste Arbeitszeiten ein. In der Praxis aber merkten Andre und Thomas bald, dass die neuen Strukturen sehr theoretische Konstrukte waren. „Wenn wir nicht da waren, wurde einfach weniger effektiv gearbeitet.“

Und die inneren Strukturen? Haben letztlich auch mit Kommunikation zu tun. Statt mit den betroffenen Mitarbeitern über Probleme und Wünsche zu reden, führten sie regelmäßige Teamgespräche ein. Dort können sie viel besser klarmachen, warum was wie passieren muss. Etwa, dass das Reißen von Deadlines dazu führt, dass Andre oder Thomas am Ende in die Bresche springen und programmieren – obwohl sie als Geschäftsführer ganz andere Aufgaben hätten. Wünsche können aber auch die Mitarbeiter äußern. Etwa den nach gemeinsamen Freizeitaktionen, weil man vom anderen im größer werdenden Unternehmen oft kaum etwas weiß. Darum war das gesamte Team schon gemeinsam beim Kegeln und auf der Kart-Bahn. Gelegenheit zum Austausch gibt es aber auch beim Frühstücksbuffet, das Andre und Thomas inzwischen täglich aufstellen lassen – und das nebenbei als Anreiz dient, pünktlich im Unternehmen zu erscheinen.

Noch mehr Struktur versprechen sich die beiden davon, demnächst Teamleiter-Posten mit neu eingestellten Leuten von außen zu besetzen. „Es ist einfach so: Den ehemaligen Kollegen nimmt man als Vorgesetzten nie vollkommen ernst.“ Und die bisherigen Teamleiter? Die hätten ihnen gesagt, dass sie ohnehin mit ihren neuen Aufgaben nie richtig glücklich geworden seien, sagen Andre und Thomas. „Eigentlich wollen die gar keine zusätzliche Verantwortung, sondern nur programmieren.“ Man muss nur drüber reden.

WENN WIR SCHNELLER WERDEN WOLLEN, MÜSSEN WIR ALLES AUSLAGERN, WAS JEMAND ANDERS BESSER KANN.

Glück gehabt. Martin Fischbock hatte ohnehin keine Lust auf das Thema seiner Masterarbeit. Um die Besucherzahlen von Parkhäusern ging es da. Wie man sie digital erfasst, um die Anzeigen auf diesen Schildern noch effektiver zu gestalten, die einem anzeigen: „Parkhaus Nord: noch 172 freie Plätze.“ Laaangweilig. Aber dann verlor der Auftraggeber das Interesse. „Die meldeten sich nicht mehr“, erinnert sich Martin. „Daraufhin meinte mein Professor, ich könne mir ein eigenes Thema suchen.“

Der Professor konnte nicht ahnen, dass er damit den Grundstein zu einem Unternehmen legte. Ein Jahr später gründete Martin mit seinen Freunden Kay Sörnsen und Jonas Häutle in Kiel das Startup Edge. Denn Martin hatte in seiner Masterarbeit ein Problem gelöst, das alle drei umtrieb: Wie kann man auf Partys und Veranstaltungen aufwendige Lichtinstallationen gestalten, ohne sich stundenlang mit der Technik herumzuschlagen?

Seit Jahren schon organisieren Martin, Kay und Jonas kleinere Festivals und Poetry Slams und experimentieren dabei viel mit Video- und Fotoprojektionen. Meistens werden die Bilder einfach an eine Wand geworfen. „Aber einmal wollten wir einen echten Hingucker haben und haben Buchstaben aus Holz gebaut, die wir über die Bühne gehängt haben.“ Die Herausforderung dabei: Den Beamer so vom Computer ansteuern zu lassen, dass nur die Buchstaben angestrahlt werden – kantengenau, so dass das Licht nicht die Ränder hinausragt. Technisch machbar, aber Frickelarbeit mit vielen vielen Korrekturschleifen, bis Entwurf und Realität zusammenpassten.

Kleinteilig: Mit dem Edge-System lassen sich verschiedene Teilflächen ansteuern

Das Problem: „Auf dem Bildschirm sah man immer nur die Projektion selbst, aber nicht den Gegenstand, auf den sie übertragen wird.“ Die Konsequenz: Nach jeder Korrektur am Rechner musste man am realen Objekt prüfen, ob die Projektion wirklich auf Kante sitzt. Falls nicht, hieß es: zurück zum Bildschirm, nochmal korrigieren, nochmal am realen Objekt überprüfen, ob es passt, und wieder von vorn. Ein nervtötender Job. Und: Ein Job, der den Kreativen zum Techniker macht. Für Martin, Kay und Jonas war das der schlimmste Aspekt.

Darum war ihnen sofort klar, dass die Problemlösung, die Martin entwickelt hatte, genial ist. Sie funktioniert so: Eine Kamera erfasst den Raum, der bespielt werden soll, und überträgt das Bild auf den Computerbildschirm. Der Benutzer kann dann mit den Fingern oder der Maus die Flächen markieren, auf die er etwas projizieren will. Die Software steuert einen ganz normalen Beamer so an, dass er nur die gewünschten Flächen anstrahlt, erklärt Martin: „Man muss sich keine Gedanken mehr darüber machen, wie das Bild auf die Projektionsfläche kommt, sondern nur noch, welche Inhalte man projizieren will.“

Neben ihrer Begeisterung für die Idee hatten die drei Gründer noch etwas gemeinsam: „Keiner von uns hat einen unternehmerischen Hintergrund.“ Das zeigte sich schon beim Definieren der Zielgruppe. Erster Gedanke: Unser Produkt kaufen Leute, die sich für Licht begeistern. Leute, die ihre Clubs, Bars oder Theater damit aufwerten wollen. Leute wie wir selbst.

Einige davon schrieben sie an. Die Reaktionen waren ernüchternd: „Die meisten haben nicht mal geantwortet.“ Kein Wunder, sagten ihnen die Coaches bei den Kultur- und Kreativpiloten. Ihr Rat: Ihr habt ein tolles Produkt, Ihr habt Leidenschaft. Nehmt das und geht raus! So begann die erste Marketing-Ochsentour: Anrufe, Kundenbesuche, Testvorführungen. In ersten Referenzprojekten ließ Edge Geckos über einen alten Industrieturm in Neumünster laufen, strahlte Programmvorschauen auf die Balustrade einer Theaterlobby und zauberte auf einen Schornstein im Kieler Hafen ein Fenster, durch das Schnee hereinwehte.

Die drei ernteten viel Zuspruch. Aber auch die Erkenntnis, dass sie die falsche Zielgruppe im Auge hatten. „DJs und VJs fanden das Produkt toll, aber ihnen fehlten noch zu viele Features, an denen wir noch arbeiten.“ Features, die Konkurrenzprodukte schon haben, auch wenn sie schwerer zu bedienen sind. Zum Beispiel die Möglichkeit, Videos ineinander zu überblenden oder mehrere Beamer zu koppeln.

„Teilweise sind wir vor Wände gelaufen, dafür gingen andere Türen auf.“ Ein viel lukrativerer Markt, stellten sie fest, ist das, was neudeutsch „Digital Signage“ heißt: Projektionsflächen im öffentlichen Raum. Supermärkte und Fitnessstudios zum Beispiel, die sich derzeit noch Großbildschirme an die Wände hängen, um ihre Kunden mit Werbung und Informationen zu bespielen. Oder große Konzertbühnen, auf denen Flächen mit Videos bespielt werden sollen. Die Zielgruppe ist jetzt klar. Und klar ist auch, dass Edge größer denken muss: Nicht mehr jeden möglichen Anwender einzeln ansprechen, jeden Ladenbetreiber oder Künstler – sondern die Multiplikatoren, die sie mit Technik und Dienstleistungen versorgen.

Groß denken: Das war der zweite Rat der Coaches. Dazu gehören auch die Investorengespräche, die Martin, Kay und Jonas gerade führen. Und Arbeit abgeben – denn der kameragesteuerte Videoserver soll im Herbst 2015 marktreif sein: „Wenn wir schneller werden wollen, müssen wir alles auslagern, was jemand anders besser kann.“ Vor allem den Vertrieb. Damit die drei sich auf das konzentrieren können, was sie wirklich begeistert: Räume zum Strahlen bringen.

ICH BIN NUR GUT, WENN ICH ETWAS AUS MIR SELBST HERAUS SCHAFFE.

Eigentlich war die Geschichte ja ein bisschen traurig. Aber die Freundinnen von Marion Lili Wagner lachten. Und genau so hatte Marion es sich auch gedacht. Die Frau in der Geschichte war aber auch zu trottelig. Verliebt sich in einen Musiker und wartet Jahrzehntelang gut gelaunt darauf, dass sie ihn endlich wiedersieht. Weil sie nicht kapiert, dass die Briefe, in denen er ihr baldiges Wiederkommen immer wieder verschiebt, eigentlich bedeuten: Ich interessiere mich nicht für dich. Marions Freundinnen lachten aber auch, weil sie darin eine echte Geschichte von ihr wieder erkannten.

Stories aus ihrem eigenen Leben aufschreiben – das mochte Marion schon als Kind. Eines hatten alle gemein: Sie waren verfremdet, um unterhaltsamer zu sein – in Wirklichkeit wartete Marion keine Jahrzehnte, sondern nur mehrere Monate auf ihren Musiker. Und: Die Geschichten waren nie lang. „Für etwas Langes habe ich nicht dem Atem“, sagt sie: „Meine Stärke war schon immer: kurz und auf den Punkt.“

Nur konsequent, dass Marion den Verlag für Kurzes gründete. Aber bis es so weit war, hat es gedauert. Erst musste in ihr etwas wachsen. Wie bei einer Pflanze in freier Natur. Ohne Dünger, ohne Stöckchen, die ihr eine Richtung vorgeben. Und die plötzlich anfängt zu blühen. Einfach, weil es Sommer ist. Der richtige Zeitpunkt.

Wohin sie ihr Weg führen sollte, wusste Marion in ihrem Leben meist nicht genau. Aber sie wusste, wohin er nicht führen sollte. Nicht zum Abschluss des Ethnologie- und Soziologiestudiums, das sie in Halle begonnen hatte. Diese Erkenntnis kam ihr, während sie ein langweiliges Referat schreib. „Ich dachte: Das mache ich doch nur, um irgendwelche Vorgaben zu erfüllen.“ Reine Quälerei. Und wozu? Eine Karriere in einem Unternehmen wollte sie ohnehin nicht erreichen. Konnte sie nicht erreichen: „Ich bin nur gut, wenn ich etwas aus mir selbst heraus schaffe.“ Am selben Tag brach sie ihr Studium ab und zog nach Berlin. Mal gucken, was da so los ist.

Mit Gelegenheitsjobs finanzierte sie ihr Leben. Sie arbeitete in Kneipen, in Callcentern, bei einem Marktforschungsinstitut – und bei der Post. Dort stempelte sie Briefe und musste nachprüfen, ob diese ausreichend frankiert waren. „Damit habe ich schnell aufgehört, das war der langweiligste Job meines Lebens.“

Literatur aber war immer dabei in ihrem Leben. Marion schrieb weiterhin Geschichten und las sie Freunden vor, oder sie las die Geschichten von Autoren, die sie kennenlernte. „Ich hatte immer Gefühl, das in mir Potenzial war, das rauswollte.“ Im Jahr 2009 war sie schwanger. Wie es die Natur manchmal so will. Sehr sehr anstrengend sei das gewesen, sagt sie, aber auch eine wunderbare Zeit. „Dadurch kam Struktur und Form in mein Leben.“ Die Zeit zwang sie aber auch in eine ungeplante intellektuelle Pause. „Als meine Tochter in die Kita kam, merkt ich, wie groß mein Hunger danach war, wieder geistig tätig zu werden. Da wusste ich, was ich machen wollte.“ 2011 gründete sie ihren Verlag. „Da hat sich ein Kreis geschlossen.“

DIE TOCHTER BRACHTE STRUKTUR - UND EINEN HUNGER NACH GEISTIGER TÄTIGKEIT

Ein Budget hatte sie nicht, aber eine Sammlung von Texten, eigene und die von befreundeten Autoren. Manche nur zwei Zeilen lang. Darunter auch Krimis von einer Autorin, deren Texte Marion auf Twitter entdeckt hatte. Eine Kostprobe: „Sie trank Tee. Er wartete ab.“

Mikro-Texte nennt Marion dieses Genre. Ihr Bruder, ein Grafiker, entwarf die Cover. Den Druck finanzierte sie aus Erspartem. Einige Exemplare brachte sie in kleinen Buchhandlungen unter. Das meiste verkaufte sie online – vor allem, nachdem einige Journalisten über Marions Startup geschrieben hatten. „Ich hatte einfach eine Mail geschrieben. Es hat sich vieles gefügt.“ Es kamen kleine Bücher im Pixie-Format hinzu. Und eine „Zettel-Biografie“, in der Menschen, die sie auf der Buchmesse ansprach, in ein paar Zeilen auf winzigen Zetteln ihr Leben zusammenfassen sollten.

Marion verdient Geld damit, aber wenig. Top-Auflagen liegen bei 800 bis 1000 Stück. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie im Wesentlichen durch Lektorats-Jobs und Artikel, die sie für einige Magazine schreibt. „Ich würde gern von meinem Verlag leben können“, sagt sie. Aber ein Businessplan? Eine Idee, wie aus den kleinen Einnahmen so große werden, das man davon leben kann? Immer wieder hat sie es versucht. Erfolglos. „Ich lebe in der Gegenwart. Alles, was über die nächste Jahreszeit hinausgeht, ist für mich ferne Zukunft.“ Bedrückend daran empfand sie nur das Gefühl, dass es anders sein müsste: „Ich dachte, wenn man es richtig macht, hat man einen Plan oder ein Ziel.“

Dass es auch anders geht, hörte sie von den Coaches bei den Kultur- und Kreativpiloten. „Dort hatte ich die Erkenntnis, dass es genauso berechtigt ist, es anders zu machen. Ich vertraue mir selbst jetzt stärker. Dadurch bin ich innerlich gewachsen.“ Nach außen erkennbares Wachstum, nämlich das von Auflagen und Einnahmen, war in den Coaching allerdings auch ein Thema. Dagegen habe sie nichts einzuwenden, sagt Marion. „Wenn Wachstum heißt, dass ich von einem Buch 1000 statt 100 Stück verkaufe, finde ich das super. Aber nicht, wenn ich 50 Stunden arbeite und im März die Weihnachtsfeier für meine Mitarbeiter planen muss.“ 25 Stunden pro Woche verbringt sie derzeit am Schreibtisch. So viel Freiheit brauche sie, sagt sie. Auch, um auf neue Ideen zu kommen. „Ich fühle mich sehr ausgeglichen und bin selten gestresst. Und ich will nicht gestresst sein.“

Was sie aus den Coachings auch mitgenommen hat, ist eine neue Perspektive. „Ich habe gelernt, das Thema Geld bei meinen Projekten mitzudenken.“ Vorausgesetzt, die Projekte machen ihr Spaß. Darum setzt sie den Vorschlag der Coaches nicht um, Firmen Mini-Bücher mit deren Unternehmensgeschichte anzubieten. „Ich hätte zu sehr das Gefühl, es nur für das Geld zu machen. Das ist ein bisschen wie Briefe stempeln bei der Post.“ Auftragsarbeiten an sich hält sie für eine gute Idee. „Aber es muss stimmig sein.“ So wie das Buch mit den Zitaten zur Liebe aus mehreren Jahrhunderten, die sie in mühevoller Kleinarbeit zusammengestellt hat. Sie ist überzeugt: das könnte ein toller Geschenkartikel für Online-Datingportale sein. Demnächst wird sie ein paar von denen anschreiben um das Buch zu bewerben. Wann genau, wen genau – das ist noch nicht klar. „Ich werde mich einfach hinsetzen und das aus dem Bauch heraus machen.“ Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.