#MUT
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Wie gut wir sind, glauben wir ja oft erst, wenn es uns jemand anders sagt. Aber warum darauf warten? Vier Geschichten von Startups, die einfach loslegten – und dann erst erfuhren, wie richtig sie lagen.

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Wie gut wir sind, glauben wir ja oft erst, wenn es uns jemand anders sagt. Aber warum darauf warten? Vier Geschichten von Startups, die einfach loslegten – und dann erst erfuhren, wie richtig sie lagen.

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Ausgerechnet Bornholm. Eine schöne Insel ist das. Schön ruhig, vor allem. Aber nicht gerade der Ort, den man als Schauplatz für folgendes Szenario vor Augen hat: Drei 17-Jährige beschließen, Graffiti-Künstler zu werden. Sie haben Erfolg und gründen ein Unternehmen mit dem Ziel: „Wir wollen mit unserer Kunst die Welt erobern.“

Aber genau so war es. Die drei, das waren Joachim „Joe“ Pitt und die Zwillingsbrüder Kai und Uwe Krieger aus Gießen. Beste Freunde und 1997 gemeinsam im Sommerurlaub auf Bornholm – im Schlepptau ihrer Eltern, versteht sich. Discos gab es keine, dafür Lagerfeuer am Strand. Und das Element, das immer gut in Geschichten passt, in denen 17-jährige Jungs und Welteroberungspläne vorkommen: Mädchen. „Die erzählten uns, dass ihre Freunde Graffiti machten.“ Nicht nur „Tags“, wie die kurzen Signaturen genannt werden, die Sprayer an möglichst vielen Orten hinterlassen, sondern richtige Kunst. Die Gießener waren begeistert: „Für uns war klar: Das machen wir auch.“

Heute betreiben Joe, Kai und Uwe ein Atelier, eine Druckwerkstatt und eine Agentur für Markenkommunikation. 3Steps heißt ihr Kollektiv. Ein Name mit Symbolwert. Die Drei steht dafür, dass sie zu dritt sind. Dafür, dass sie einen Drei-Stufen-Plan haben. Und dafür, dass sie sich etwas zutrauen, denn der Name ist die Kurzform von „Three Steps Ahead“ – drei Schritte voraus. Da wollen sie hin.

Aber auf dem Weg nach vorn haben sie gelernt: Sich etwas trauen bedeutet nicht nur, ein Ziel zu haben und loszulaufen. Sondern auch: zwischendurch mal Luft zu holen, auf die Wegmarkierungen zu gucken und sich selbst klar zu machen: „Wir sind schon ganz schön weit.“

Nach Bornholm führte ihr Weg sie zuerst in die Gießener Sprayer-Szene. Er führte sie über die Gründung einer Graffiti-AG an ihrer Schule auf internationale Festivals. Immer häufiger wurden sie dazu eingeladen, weil sich herumsprach, dass die Jungs etwas draufhaben. Und eine Einladung führte sie schließlich nach New York – wo sie einer ihrer künstlerischen Nischen fanden. „An jedem Ort gibt es ja einen Gegenstand, der einen besonders fasziniert. Für uns waren es die Yellow Caps“, erzählen Joe, Kai und Uwe. „Obwohl es nur Autos sind, haben sie etwas hochästhethisches.“ Das scheinbar Profane wurde zum Mittelpunkt ihrer Arbeit: „Wir glorifizieren Dinge des Alltags als Kunstobjekt. Sneakers oder Brillen. Sachen, die man unbedingt haben will, obwohl man sie gar nicht braucht.“

Schon während der Uni-Zeit verdienten sie mit ihrer Kunst auch Geld. Mit Auftragsarbeiten für Clubs, Schulen oder Werbeagenturen. So viel, dass klar war: „Nach dem Studium machen wir das richtig.“ Drei Stufen hatten sie sich dafür überlegt. Stufe Eins: ein eigenes Studio aufbauen, mit genug Arbeits- und Lagerfläche. Stufe Zwei: von der Kunst leben können. Stufe Drei war die Sache mit der Welteroberung. Oder weniger martialisch ausgedrückt: „Wir wollen unsere Kunst mit der Welt teilen.“ Denn eigentlich geht es ihnen genau darum: „Unsere Bilder reflektieren unsere Träume. Und sie sollen anderen Menschen helfen, ihre zu finden.“

Zwischendurch hätten sie das fast vergessen. „Um das Studio zu finanzieren, haben wir aggressiv Akquise betrieben. Anfangs haben wir fast nur Kundenaufträge gemacht.“ Es lief gut. Aber trotzdem waren da immer der Druck und die Zweifel: Reicht es? Stehen wir auf so festen Beinen, dass wir Künstler sein können und nicht nur Dienstleister? „Wenn Du für ein paar tausend Euro Material gekauft hast, und das Bild ist noch nicht verkauft, dann bekommst Du schon kalte Füße.“ Und irgendwie ging das alles viel zu langsam, fanden sie. „Um uns herum meinten alle nur: Es läuft doch alles sehr schnell bei euch.“ Aber erst als ihnen das auch die Coaches bei den Kultur- und Kreativpiloten sagten, glaubten sie es. „Das war die Bestätigung von außen, die wir brauchten. Da wurde uns klar, dass wir Stufe eins eigentlich schon abgeschlossen hatten: Plan A funktioniert.“

Mit neuem Selbstvertrauen begannen sie, ihr Verhalten als Künstler und Unternehmer zu ändern. „Jetzt konzentrieren wir uns mehr auf die Projekte, die Spaß machen.“ Auch darunter sind oft noch Auftragsarbeiten. „Aber es sind Arbeiten, wo man uns nicht als Werbegestalter bucht, sondern unsere Kunst will.“ Und sie treten anders gegenüber Kunden auf: „Früher haben wir oft für ein einfaches Projekt zwei oder gar drei komplett verschiedene Entwürfe präsentiert. Heute sagen wir: In alles, was wir nach außen vorzeigen, haben wir so viel Energie und Arbeit hineingesteckt, dass es für uns perfekt ist.“ Und mehr als perfekt geht nicht „Wenn ein Auftraggeber einen zweiten Entwurf will, sagen wir: Dann braucht Ihr einen anderen Künstler.“

Und sie machen wieder mehr Dinge, in denen das Geld nicht im Vordergrund steht. Etwa das Rivertales-Festival, bei dem verwaiste Uferbereiche durch Kunstwerke wieder belebt werden. Dafür haben sie jetzt sogar drei Stücke der Berliner Mauer aufgetrieben. Die wollen sie rund um die Welt schicken. Überall werden sie neu gestaltet, von immer neuen Künstlern mit immer neuen Träumen. Stufe drei hat gezündet.

UNS PASSIERT SCHON NICHTS.

Dann gründen wir eben einen Verlag“. Wie einfach das klingt. Jedenfalls, wenn Katrin Bongard und Uwe Carow es sagen. Und genauso unbekümmert haben sie es auch entschieden, als sie 2010 aus New York wiederkehrten. Dort hatten sie mit einem Verlag gesprochen, bei dem sie ihre eigenen Graphic Novels herausbringen wollten – Comics, deren Stil an Gemälde erinnern. „Denen gefiel es zwar, aber sie meinten, es würde sich nicht rechnen.“ Katrin und Uwe kassierten eine Absage. So wie schon bei zahlreichen internationalen Verlagen zuvor.

Aber sie glaubten nicht nur an ihr Produkt, sondern sie erkannten auch die Chance, die sich durch die gerade aufkommenden E-Books bot: ohne großes finanzielles Risiko selbst Bücher anbieten und verkaufen zu können. „Wir dachten: Bäm! Das ist es doch.“ 2012 gründeten sie an ihrem Wohnsitz Potsdam den E-Book-Verlag Red Bug Books.

Mutig? Vielleicht. Aber dieses Wort fällt nicht ein einziges Mal, wenn die beiden über all die Unternehmungen und Unternehmen erzählen, die sie in den vergangenen 30 Jahren schon auf die Beine gestellt haben. Dafür fällt ein anderes Wort häufig. Und irgendwie bedeutet es im Grunde dasselbe wie mutig: naiv.

Kunst machen sie bis heute. Aber es kamen unzählige weitere Jobs hinzu. Nachbarn, die im Filmgeschäft arbeiteten, brachten Katrin und Uwe auf die Idee, Drehbücher zu schreiben. Sie kauften sich Fachbücher, besuchten Kurse und saßen mit der Stoppuhr bei „Harry und Sally“ vor dem Videorekorder. „Wir hielten immer wieder die Szenen an, um zu verstehen, wie man so etwas aufbaut: Was passiert bei Minute drei und was bei Minute fünf?“

Und sie verschickten gegen alle Regeln – die sie nicht kannten – ihr erstes Manuskript, das einem Schauspieler auf den Leib geschrieben war, direkt an dessen Agentur. Als die tatsächlich anrief und fragte, ob es schon ein Drehbuch gäbe, wurde aus naiv sogar naiv-dreist: „Klar. Ist gerade in Überarbeitung“ behaupteten sie. „Dann haben wir das Drehbuch in zwei Wochen geschrieben.“

Das Buch kam gut an, wurde letztlich aber nicht verfilmt. Darum gibt es kein Honorar, meinte die Agentur. Gibt es doch, meinten Katrin und Uwe. Und sie setzten sich durch. „Wir haben immer Geld bekommen, weil wir immer Geld gefordert haben“, sagen sie, „wir dachten, so muss das sein.“ Das blieb auch so, als sie erfolgreich Drehbücher und Serien-Konzepte schrieben und später die Schauspieljobs ihrer eigenen Kinder managten. In der Haifischbranche Film seien sie wie die kleinen Putzerfische herumgeschwommen, im festen Glauben: „Uns passiert schon nichts.“

Und jetzt ein Verlag. In kürzester Zeit verkauften sie erfolgreich Jugendbücher, von denen Katrin viele selber schreibt. So erfolgreich, dass sie inzwischen Lizenzen an Verlage verkaufen können, die ihre E-Books gedruckt herausbringen.

WIE PUTZERFISCHE IM HAIFISCHBECKEN

Die Graphic Novels laufen weniger gut. Ebenso wie die Serien, die für kurze Zeit im Programm hatten. Aber das war auch nicht der entscheidende Gedanke hinter dem E-Book-Projekt. „Wir wollten nicht mehr einzelne Kunstwerke für viel Geld verkaufen, sondern viele Kunstwerke zu Preisen, die sich viele leisten können.“

Dass es für dieses Konzept den Begriff „Skalierbarkeit“ gibt, lernten sie erstmals bei den Kultur- und Kreativpiloten. Ebenso, dass sie „Effecutation“ betrieben, als sie sich die ersten Informationen über die Filmbranche bei ihren Bekannten zusammenklaubten. Oder dass die Idee, dass ein E-Book-Verlag mit wenig Geld gegründet werden kann, einen typischen Fall von „Fail Cheap“ darstellt.

„Das hat uns wirklich weiter gebracht“, sagen sie. Nicht, weil sie jetzt schicke Begriffe für das kennen, was sie ohnehin seit Jahrzehnten machen. „Jetzt können wir Sachen viel schneller umsetzen, weil wir verstehen, welches System dahinter steckt.“

In den Coachings gab es auch den Vorschlag, einen Mitarbeiter einzustellen. Ein sinnvoller Schritt angesichts des Wachstums, das ihr Verlag gerade hinlegt, meinen sie. Aber auch ein Schritt, vor dem die beiden bislang zurückscheuten. „Das entschleunigt uns. Wir sind so schnell in dem, was wir tun.“ Aber sie suchen. Allerdings keinen Mitarbeiter im klassischen Sinne. Keiner mit vorgegebenem Aufgabengebiet wie Vertrieb oder Marketing. „Wir brauchen eher so eine Art Personal Assistant. Eine Art Familienmitglied. Jemand, der ganz nah an uns dran ist und alles mitmacht.“ Klingt etwas naiv. Wird wohl klappen.

WIR SIND NICHT DIE DESIGNER UM DIE ECKE, DIE AUF STUNDENBASIS ARBEITEN. WIR BIETEN MEHR UND DARUM MÜSSEN WIR MEHR VERLANGEN

Wonach riecht eigentlich unser Unternehmen? Es gibt wohl nicht viele Gründer, die sich diese Frage stellen. Für Mareike Roth und Oliver Saiz ist sie ein ganz natürlicher Teil ihres Selbstverständnisses: „Hoch E riecht nach Limette, mit einem Hauch von Minze.“ Denn diese Geschmacksrichtungen symbolisieren „Frische“. Auch ihre Unternehmensfarbe Magenta ist bewusst gewählt: Der satte Pink-Ton stehe für „Neues“ und „Innovationen“, sagen Mareike und Oliver.

Hoch E erklärt Firmenchefs, welche Emotionen zu ihren Marken und Produkten passen – und welche Farben Formen, Materialien oder Gerüche diese Emotionen verkörpern. Aber ist das wirklich magentamäßig innovativ? Produkte so gestalten, dass sie Emotionen wachrufen – machen das nicht viele Designer? „Der Unterschied ist, dass wir nicht einfach nach unserem Gefühl entscheiden, sondern auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnisse“, sagen Mareike und Oliver. „Das ist etwas Besonderes.“ Der letzte Satz kommt ihnen noch nicht so leicht über die Lippen. Denn sie mussten erst begreifen: Wer etwas Besonderes macht, darf auch darüber reden. Und zwar laut. Der darf sich herausstrecken, wenn er neben Mitbewerbern steht.

NICHT JEDER KUNDE WILL SICH AUF DEN PROZESS EINLASSEN

An Mitbewerber und Marktumfeld dachten Mareike und Oliver noch gar nicht, als sie sich erstmals mit dem Thema Emotionen und Gestaltung beschäftigten. Im Rahmen eines Hochschulprojekts wollte die beiden Design-Studenten herausfinden, wie ein Blutzuckermessgerät aussehen muss, das ein Patient gern in die Hand nimmt, weil es nicht bedrohlich wirkt. Oder ein Akkuschrauber, der seinem Nutzer das Gefühl gibt, ein richtiger Kerl zu sein.

„Wir haben uns gefragt: Warum verbinden wir bestimmte Emotionen mit bestimmten Produkten? Und wie wichtig ist dafür die Gestaltung?“ Dasselbe fragten sie auch renommierte Designer. Die Antworten verblüfften sie: „Fast alle sagten, dass Emotionen wichtig seien. Aber nur wenige konnten beschreiben, wie Emotionen aussehen. Und auf die Frage, mit welchen Methoden oder Tools sie Emotionen ermitteln, hieß es nur: Bauchgefühl. Erfahrung.“

Das war Mareike und Oliver nicht genug. Also schauten sie über den Design-Tellerrand hinaus, in andere Disziplinen: Verhaltensforschung, Psychologie, Biologie, Neurologie, Philosophie. „Da gab es jede Menge Antworten. Wir mussten sie nur für Designer übersetzen.“ So wurde aus dem Projekt erst eine Masterarbeit, dann ein Buch und dann ein Werkzeug: das Emotion-Grid.

Optisch erinnert es ein wenig an ein Brettspiel. Aber es ist das Werkzeug, das hoch E besonders macht. Eine „Landkarte der Emotionen“, die Mareike und Oliver da benutzen, wo sonst nur das Bauchgefühl die Richtung vorgibt. Darauf platzieren sie sechseckige Spielsteine in den Feldern, die das Produkt verkörpern soll. Eine Kettensäge etwa besetzt Felder wie „Aggression“, „Kampf“ oder „Überlegenheit“. Aber weil die Aggression der Säge nur dem Baum gelten soll und nicht deren Benutzer, liegt auch im Feld „Sicherheit“ ein Stein. Weitere Steine verkörpern die Zielgruppe oder das Image der Marke, beispielsweise „Qualität“. Das Feld liegt nah am Feld Sicherheit. Die Bereiche, in denen sich die meisten Plättchen stapeln, geben die Richtung vor, in die das Design gehen soll. Passend dazu gibt es Form-, Farb- und Materialkarten. „Vertrauen“ etwa geht einher mit runden Formen, mit Leder-, Messing- oder Nadelholz-Optik. Alles nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammengestellt – zusammen mit dem Auftraggeber. „Damit sind wir nicht mehr die Zauberer, die plötzlich ein Kaninchen aus dem Hut ziehen“, sagen sie, „wir können den Kunden mit in den Prozess einbeziehen.“

Einige Kunden aber mögen Zaubertricks lieber als Wissenschaft. Vor allem bei Mittelständlern taten sich Mareike und Oliver oft schwer damit, den Nutzen ihres Emotion-Grids zu vermitteln. Mittelständler sahen sie aber zuerst als ihre größte Zielgruppe: „Wir dachten, wir fangen erstmal klein an.“ Und wenn die Kunden sie engagieren wollten, obwohl sie der Weg zur Produktgestaltung nicht interessierte, nahmen sie den Auftrag trotzdem an. „Anfangs hätten wir es vermessen gefunden, einfach Nein zu sagen.“ Genau das aber rieten die Kultur- und Kreativpiloten-Coaches: Nein sagen.

„Wir haben das Gefühl bekommen: Es ist ganz viel da – wir müssen es nur besser rüberbringen.“ Seitdem suchen sie Kunden, die zu schätzen wissen, wie viel Arbeit und Tiefgang in ihren Methoden steckt. „Bei großen Unternehmen rennen wir offene Türen ein“, sagen sie heute. Und denen geht oft nicht nur darum, dass hoch E einzelne Produkte für sie entwickelt, sondern sie vor allem berät: beim Aufbau von Marken, Strategien und Corporate Identity. „Dabei haben wir gemerkt: Beratung ist etwas, das wir eigentlich schon die ganze Zeit machen.“ Diesen Bereich bauen sie jetzt aus – ebenso wie ihre Preise. „Wir sind eben nicht die Designer um die Ecke, die auf Stundenbasis arbeiten. Wir bieten mehr und darum können wir mehr verlangen“, sagen sie. Und verbessern sich sofort: „Nein, darum müssen wir mehr verlangen.“

Auch ihre Webseite haben sie komplett überarbeitet. Mit neuen Texten und Fotos, die klarmachen, was an hoch E so besonders ist. Nur die Farbe Magenta bleibt. Naja, fast: „Wir verwenden jetzt nicht mehr Magenta, sondern Magenta-neon“, sagen sie: „Das leuchtet stärker.“

ES IST VÖLLIG NORMAL, DASS MAL ETWAS SCHIEF LÄUFT.

Mut ist eine typische Eigenschaft von Unternehmern. Der Wille, etwas umzusetzen. Egal, was sich in den Weg stellt. Mutlosigkeit ist ein typisches Symptom bei Depressionen. Die Angst davor, Dinge umzusetzen. Es könnte sich ja etwas in den Weg stellen. Danach ist Kristina Wilms vor allem eines: ziemlich untypisch. Denn ihre Depression brachte sie dazu, Unternehmerin zu werden.

2012 war das Jahr, in dem Kristina alles zu viel wurde. Ihr Wirtschaftsstudium. Die Frage, was sie anfangen will mit ihrem Leben. Und das Gefühl, dass es da so gar nichts gab, womit sie diese Welt bereichert. Sie brach das Studium ab und machte eine stationäre Therapie. Danach besuchte sie weiter regelmäßig einen Therapeuten. Gute Sache, das. Wären das nur nicht diese leidigen Fragebögen, auf denen sie regelmäßig eintragen sollte, wie sie sich fühlt und wie ihre Reaktionen auf diese Gefühle aussahen: „Ich habe Nackenschmerzen.“ „Ich denke, dass ich hässlich bin. Darum habe ich die Party abgesagt.“

Das Ziel dieser Selbsterfassung: Depressive sollen besser verfolgen können, was mit ihnen passiert. Und Warnzeichen rechtzeitig erkennen, nach dem Motto: Wenn die Nackenschmerzen kommen, sollte ich lieber eine Pause einlegen. „Ich fand das doof“, sagt Kristina. Und meint nicht den Inhalt, sondern die Methode. Unübersichtlich, knitteranfällig. Und ständig zum Copyladen gehen, um neue Bögen zu machen. „Ich fragte mich: warum gibt dafür keine App?“, sagt sie: „Es gibt doch für alles eine App.“ Selbst machen schied aus. „Ich hatte keine Ahnung von der Startup-Szene und keine Ahnung von der Technik.“

Bis der Zufall ihr folgende Nachricht per E-Mail sendete: „Hast du eine Idee für eine App? Schick sie uns!“ Einen Preis gab es auch: Eine mehrtägige Busreise mit Startup-Teams, die während der Fahrt versuchen, aus Ideen Produkte zu entwickeln. Absender war eine australische Agentur, von der Kristina noch nie gehört hatte, zudem war die Nachricht im Spam-Ordner gelandet. Trotzdem schrieb sie zurück. „Ich hätte gern eine App für Depressionen.“ Zwei Tage später war Australien am Telefon: „You‘re a winner!“

Glück gehabt, dachte Kristina. Aber im Startup-Bus würde sie, einzige Frau unter lauter „Designern und Businesscracks“, sich nach der vorgeschriebenen Präsentation in eine Ecke setzen, stumm bleiben und baldmöglichst wieder aussteigen. „Ich dachte: meine Idee kommt ja eh nicht zustande. Und ich hatte ja auch keine Skills.“ Sieben Mitreisende sahen das anders. Darunter Purcy Marte, ein Webdesigner, der schon mal ein Unternehmen gegründet hatte und endlich mal ein wirklich sinnvolles Produkt entwickeln wollte. „Die hörten mir zu und versuchten, eine Lösung zu finden“, sagt Kristina. „Das fühlte sich gut an. Auf einmal war die Depression nicht mehr etwas, was mich einschränkt, sondern etwas, womit ich etwas machen kann.“ Am Schluss gewann sie den Hauptpreis von mehreren Startup-Bus-Touren: ein Stipendium, das einen Büroplatz in Berlin beinhaltete.

„Bis dahin war es nur ein Spiel gewesen“, sagt Kristina. Jetzt war für sie und Purcy klar: „Wir machen daraus ein Unternehmen.“ Arya sollte es heißen, ein Wort aus dem Sanskrit, das „wahrer Krieger“ bedeutet. Es kamen Presseberichte, weitere Gründerpreise. Und ein Angebot von einem Investor – der Kristina einen Geschäftsführer an die Seite stellen wollte. „Er meinte, ich wäre ja krank und darum ein Risikofaktor.“

„Dann eben nicht“, sagte der Risikofaktor. „Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die die Idee richtig umsetzen würden. Denn ihr ging es nicht nur darum, ein Unternehmen aufzubauen, das Gewinne einfährt: „Unsere Vision ist, das Leben von Menschen mit Depressionen zu verbessern und etwas gegen ihre Stigmatisierung in der Gesellschaft unternehmen.“

Also legten sie los. Egal, was sich in den Weg stellte. Die Therapie-Plattform, auf der Kristina und Purcy den Markteinstieg schaffen wollten, ging pleite – dann eben allein weiter machen. Das Geld wird knapp – man kann sich auch mal eine Weile von Toastbrot ernähren. Es gibt bereits ein ähnliches Produkt – egal, das ist längst nicht so ausgefeilt wie unseres und bestätigt uns darin, dass es einen Markt gibt. Therapeuten werden für die Nutzung dieser App nicht bezahlen – macht nichts, Krankenkassen sind ohnehin das viel interessantere Klientel.

Bei jedem dieser Widerstände gab es Zweifel, Rückfälle in depressive Phasen und das Gefühl, dass alles viel zu langsam vorangeht. In einem Workshop der Kultur- und Kreativpiloten brachen diese Gefühle durch. „Ich habe geweint und gesagt, dass ich nicht weiß, ob ich überhaupt weitermache.“ Aber die Gruppe fing sie auf. „Die waren alle sehr wohlwollend, nicht in dem Konkurrenzdenken verhaftet, das es sonst in der Startup-Szene gibt“, sagt Kristina: „Letztlich hatte ich die Erkenntnis, dass mich das erfüllt, was ich mache. Und dass es völlig normal ist, dass mal etwas schief läuft.“

ARYA DENKT AUCH AN APPS FÜR SUCHTKRANKE UND ESSGESTÖRTE

Und das Coaching? Naja, irgendwie habe sie sich einen Coach immer als jemand vorgestellt, der alles weiß – auf jeden Fall mehr als man selbst. Tatsächlich ging sie immer mit der Bestätigung aus den Terminen, selbst schon sehr viel zu wissen. Wie das Gesundheitswesen funktioniert. Wie man ein Unternehmen gründet. Wie Teambuilding funktioniert. Oder was Arya noch entwickeln könnte: Apps für Suchtkranke oder Essgestörte. Apps, die auch anhand von Stimme oder Puls Auffälligkeiten erkennen können und Warnhinweise geben. Es gibt bereits Gespräche mit einer Klinik, die sich an der Forschung beteiligen möchte.

An der Depressions-App haben schon mehrere Krankenkassen Interesse gezeigt. „Die sind begeistert“, sagt Kristina. Und schränkt sofort darauf ein: „Aber Begeisterung heißt ja nicht, dass die das wirklich kaufen wollen. Ich glaube immer noch nicht so wirklich daran. “ Und überhaupt, habe das mit ihr als Person ja ohnehin wenig zu tun. „Es war Glück, dass ich zufälligerweise mit den richtigen Leuten zur richtigen Zeit gesprochen habe.“

Im Augenblick sieht viel danach aus, dass es im Jahr 2016 die erste Arya-App geben könnte. Auf der Depressive dann endlich bequem nachverfolgen können, ob sich bestimmte Muster in ihrem Leben ständig wiederholen. Etwa eine ungewöhnliche Häufung von glücklichen Zufällen. So häufig, das man sich fragen müsste, ob das wirklich alle Zufälle sind oder nicht etwas ganz anderes ist. Vielleicht ist es auch einfach ein Zeichen von Mut.