EROBERE DIE STRASSE
EROBERE DIE STRASSE

Bürgerbeteiligung kann mehr sein als ein Infoabend im Gemeindezentrum – und Stadtteilkultur mehr als ein Flohmarkt mit Kinderschminken und Schwenkgrill: Die Start-ups Literaturwegen und Krauses zeigen, wie man mit Kreativität – manchmal Subversivität – die Menschen neu begeistern kann für ihre Dörfer, Stadtteile und Regionen.

EROBERE DIE STRASSE

Bürgerbeteiligung kann mehr sein als ein Infoabend im Gemeindezentrum – und Stadtteilkultur mehr als ein Flohmarkt mit Kinderschminken und Schwenkgrill: Die Start-ups Literaturwegen und Krauses zeigen, wie man mit Kreativität – manchmal Subversivität – die Menschen neu begeistern kann für ihre Dörfer, Stadtteile und Regionen.

EROBERE DIE STRASSE

Wer ihrem Stadtteil den Namen „Tal der fliegenden Messer“ gegeben hat, weiß Marika Gillessen auch nicht so genau. Oder „Klein-Warschau“. Oder „Klein-Ankara“. Dafür kennt sie die Resultate: Besuch bekommt sie eher selten hier in Kirchdorf-Süd auf der Elbinsel Wilhelmsburg, die den Ruf als Hamburger Problemviertel weghat.

Mit Bus und Bahn ist man vom Hauptbahnhof aus in 18 Minuten da, aber welche Überwindung es ihre Freundin kostete, diesen kurzen Weg ins Ungewisse zu wagen und sich Schritt für Schritt durch Gillessens Heimat zu bewegen, erzählt die überzeugte Kirchdorferin in ihrer Kurzgeschichte „Ein Lächeln überwindet so manche Schwierigkeiten“. Entstanden ist sie in einer Schreibwerkstatt des mit dem Titel „Kultur- und Kreativpiloten Deutschland 2015“ ausgezeichneten Hamburger Start-ups Literaturwegen, das die Erinnerungen und das Wissen der Menschen in Stadtteilen, Dörfern und Gemeinden hebt – meist im Auftrag von Gemeinden oder Wohnungsbaugesellschaften, die neue Wege der Image- und Gemeinschaftsbildung suchen.

Zusammen mit Literaturwegen-Gründer Jörg Ehrnsberger entwickeln die Bewohner ihre Ideen und feilen an ihrer Umsetzung in Texte, die dann meistens als Buch erscheinen – oder, wie im Fall von Marika Gillessen, als Audioguide, der die vorgelesenen Geschichten an den Orten des Geschehens auf dem Smartphone abspielt.

In diesem Fall der Marktplatz von Kirchdorf-Süd, der von Hochhäusern umgeben friedlich in der Sonne brütet. Türkischer Supermarkt neben Selbstbedienungs-Backshop neben Raucherecke vom Jugendtreff neben albanischem 24-Stunden-Internetcafé. „Als wir das Kamerateam vom Lokalfernsehen dahatten, kam gleich einer und fragte: Ey, was filmst du mein Haus?“, sagt Jörg und schaut lachend an dem Hochhaus empor. „Als wir es ihm erklären, meint er: In Ordnung, Digger, macht weiter, und wenn einer Stress macht, sagt ihm: Adrian sagt, ist okay. Wir so: Alles klar, Mann, vielen Dank! Der war vielleicht 15!“

Jörg wirkt ein bisschen verliebt in diesen Stadtteil, seine Bewohner und ihre Geschichten. Er hat selbst sein Büro in Wilhelmsburg und freut sich, dass sein Konzept Menschen hier ebenso gut zusammenbringt und ebenso große Wirkung entfaltet wie in den Dörfern und Kleinstädten, wo Literaturwegen bisher unterwegs war – wofür das Start-up zum Kultur- und Kreativpiloten Deutschland gekürt wurde.

„Früher war für uns das Wichtigste immer das Buch mit den gesammelten Geschichten, das am Ende einer Schreibwerkstatt entstanden ist“, sagt Jörg. „Inzwischen finde ich es spannender, wie diese Projekte die Leute aktivieren und die Bürgerbeteiligung in Gang bringen. Wir besuchen manchmal Dörfer, wo die Teilnehmer sich immer noch treffen, schreiben und Lesungen abhalten. Da entsteht nicht immer gleich hohe Literatur, aber die Leute setzen sich auseinander und schaffen langfristig Bewusstsein.“

MANCHE PROJEKTE WÜRDE ICH HEUTE NICHT MEHR MACHEN, WEIL ICH MICH DA ALS UNTERNEHMER NICHT ERNST GENOMMEN FÜHLEN WÜRDE.

Entstanden ist Literaturwegen aus Jörgs eigener schriftstellerischer Tätigkeit: „Daraus eine Firma zu machen war ein großer Schritt für mich, ich war eigentlich mehr Künstler nach meinem eigenen Verständnis – und BWLer waren für mich immer die Deppen, die mehr Geld hatten.“

Mit wie viel Enthusiasmus er seine Rolle als Unternehmer schon angenommen hatte, wie sehr er sich begeistern kann für neue Formate wie den Audioguide oder ein Projekt, bei dem Sehende und Blinde gemeinsam die Landesgartenschau Eutin besuchen und gemeinsam ihre Eindrücke verarbeiten: Das merkte er erst in den Screening-Gesprächen mit seinen Kreativpiloten–Mentoren.

„Ihr Feedback war: Du beschreibst dich zwar nicht als Unternehmer, aber verhältst dich so. Das hat meine Wahrnehmung auf meine Tätigkeit noch mal geschärft.“ Und ihm dabei geholfen, in Preisverhandlungen resoluter aufzutreten. „Manche Projekte würde ich heute nicht mehr machen, weil ich mich da als Unternehmer nicht ernst genommen fühlen würde. ‚Kreatives Schreiben‘ – da denken viele an Töpfer- oder Makramee-Kurse an der VHS. Wenn ich heute so eine Haltung spüre, kläre ich das in zwei Sätzen, oder ich bin raus.“

ICH HABE GELERNT, MICH IN KUNDEN REINZUDENKEN UND ZU ERKLÄREN: WAS BRINGT MIR DAS, WENN ICH MIR EINEN KRAUSE BUCHE?

Mit dem Begriff „Unternehmer“ fremdelt Norbert Krause immer noch, aber das mit dem Auftreten, wenn er einen Preis für seine Arbeit verhandelt, das hat er nun auch intus. Unheimlich viele Runden mit seinem Mentor aus dem Kreativpiloten-Netzwerk habe er gedreht, sagt Norbert, der sich einen Namen gemacht hat mit Kunst- und Bürgeraktivierungs-Aktionen in seiner Heimat Mönchengladbach. Was einmal mit Zero-Budget-Projekten angefangen hat, ist längst schon ein Vollzeitjob.

Gerade quält sich Norbert mit den Abrechnungen für September, als ein Auftrag den anderen jagte. „Ich muss echt mal Stunden aufschreiben“, sagt der 36-Jährige. „In so was bin ich furchtbar. Aber andererseits: Wenn du alles genau ausrechnest, machen die Zahlen dich womöglich auch nicht unbedingt schlauer. Und bisher hat es mit meinen Aufwandseinschätzungen immer ganz gut hingehauen.“

Es ist weniger die Kalkulation als die Einstellung, die sich in den Screenings mit den Beratern geändert hat, sagt Norbert: „Ich habe gelernt, mich in Kunden reinzudenken. Ich mache viel im Bereich Stadtentwicklung und Mobilität. Da habe ich es mit Ingenieuren zu tun, und denen muss ich erklären: Was bringt mir das, wenn ich mir einen Krause buche?“

Beim Projekt Fahrradstadt verknüpft Norbert Krause unterschiedlichste Akteure und Institutionen mit dem Thema Fahrrad – hier die Yoga-Lehrerin mit ihrem Kurs

Erst mal: Eine Menge Spaß und manch einen Perspektivenwechsel. Gerade hat Norbert Mönchengladbachs Beitrag zur Europäischen Mobilitätswoche gestaltet, mit allerlei Aktionen wie der kurzfristigen Vollsperrung einer Hauptverkehrsstraße. „Es war toll zu sehen, wie die Leute angefangen haben, diesen Raum zu nutzen, manche haben geskatet oder mit einem Softball gespielt, andere haben kurzerhand ihren Geburtstag auf der Straße gefeiert.“

Ein großer Hit war auch die Hindernis-Rallye mit vollgepackten Marktrollern, die hier in der Region „Zwiebelporsche“ heißen. Nur auf den ersten Blick ein reiner Gag, sagt Norbert: „Ziel war es ja, nachhaltige Mobilitätsformen in den Vordergrund zu stellen. Beim Fahrrad ist das einfach, aber dass zu Fuß gehen auch eine wichtige Fortbewegungsform ist, wird oft vergessen, da sie scheinbar so banal ist. Da brauchst du dann einen Aufhänger.“

Noberts Projekte und Ideen sind außergewöhnlich: Eigenmächtig eine Brachfläche abkordeln, zum Feld erklären und dem Bürgermeister symbolisch die Erde verkaufen, um ins Gespräch über Urban-Gardening-Flächen zu kommen. Den Abriss eines Theaters zur öffentlichen Aktion machen, bei der die Bürger Schlange stehen, um jeder auf seine Art Abschied zu nehmen. Ein Lokalradio mit genau einem Quadratmeter Sendegebiet gründen, sodass die Hörer mit ihren Radios zum Sender kommen müssen und nicht umgekehrt – Norberts Art, öffentliche Räume umzudenken, hat ihn auf das Radar von Verwaltungen und Kultureinrichtungen gebracht, die ihn jetzt von sich aus ins Boot holen, um zum Beispiel den Bürgerbeteiligungsprozess für ein neues Nahverkehrskonzept lebendiger zu gestalten oder den Gang ins örtliche Museum wieder interessant zu machen.

„Die Frage ist natürlich immer: Läuft das im nächsten oder übernächsten Jahr auch noch so gut?“, sagt Norbert, der in diesen Tagen zum ersten Mal Vater wird. „Aber wenn du Angestellter bist, weißt du auch nicht, wie lange es deine Firma noch gibt.“

VIELES WÜRDE BESTIMMT AUCH ANDERSWO FUNKTIONIEREN, ABER DESWEGEN JETZT WILD 20 STÄDTE ANZUSCHREIBEN UND ZU WARTEN, WO ES FRUCHTET, FÜHLT SICH NICHT WIE DER FÜR MEINE ARBEIT RICHTIGE WEG AN.

Wäre es da nicht an der Zeit, das Geschäft über die Heimatregion hinaus zu erweitern? Nach Krefeld hat es Norbert immerhin schon geschafft und im Dezember hat er ein erstes Projekt in München. „Das Gute am regionalen Arbeiten ist, dass du dein Umfeld gut kennst“, sagt Norbert. „Vieles würde bestimmt auch anderswo funktionieren, aber deswegen jetzt wild 20 Städte anzuschreiben und zu warten, wo es fruchtet, fühlt sich nicht wie der für meine Arbeit richtige Weg an. Das muss sich organisch ergeben.“

Dass man im Regionalgeschäft mit Kaltakquise nichts wird, gehört auch zu Literaturwegen-Gründer Jörg Ehrnsbergers Erfahrung. „Da braucht alles seine Zeit. Oft führt ein Projekt zum anderen, das sind oft ganz kuriose Wege.“ Was bei der Geschäftsentwicklung hilft: „Wir verkaufen ja auch Medienöffentlichkeit, wenn wir rund um die Projekte Aktionen machen – wie eine Rundfahrt zu den Orten, an denen die Geschichten spielen. Gerade auf dem Land, wo es wenige langfristige Kulturaktionen gibt, funktioniert das super.“

Ein weiterer Nutzen, der dem Literaturwegen-Team durch die Teilnahme am Kreativpiloten Programm so richtig bewusst geworden ist: „Wenn sich 50 Leute mit so einem Gemeindeprojekt beschäftigen, erleben sie auf einmal den Bürgermeister und die Verwaltungsangestellten ganz anders. Das ist ein sehr spannender Netzwerkeffekt, den wir jetzt bei der Vermarktung mehr in den Vordergrund stellen.“

Besonders freut sich Jörg auf das nächste geplante Projekt, bei dem zum ersten Mal Geschichten über Orte hinweg erzählt werden: Es soll von einem Freilichtmuseum ausgehen, das aus historischen Häusern besteht, die an ihren Herkunftsorten abgetragen und hier neu aufgebaut wurden. „Wir möchten die Geschichten dieser Häuser zurück in die Dörfer tragen“, sagt Jörg.

„Das passiert doch überall, dass Gebäude verschwinden und damit auch der Bezug zu dem, was hier mal war. Die Häuser können wir nicht zurückbringen. Die Erinnerungen schon.“