Anders erzählen
Anders erzählen

Hat noch keiner so gemacht? Prima, dann machen wir das so. Mit der Lust am Experiment erfinden drei Medien-Start-ups neu, wie man in der digitalen Welt erzählen, aufrütteln und unterrichten kann.

WORK IN PROGRESS

Hat noch keiner so gemacht? Prima, dann machen wir das so. Mit der Lust am Experiment erfinden drei Medien-Start-ups neu, wie man in der digitalen Welt erzählen, aufrütteln und unterrichten kann.

WORK IN PROGRESS

Manchmal passt ein ganzes Unternehmerleben in ein einziges Jahr. So kommt es jedenfalls Maren Urner vor: „Wir haben im Schnelldurchlauf alle Phasen durchgemacht, wir sind im Kreativpiloten-Jahr von der Idee bis zur Durchführung gegangen, das war sehr, sehr intensiv.“

Am 21. Juni ist ihr Online-Medium Perspective Daily an den Start gegangen. Jeden Tag erscheint dort jetzt ein Beitrag, der das Weltgeschehen anders beleuchten soll, als es die meisten konventionellen Medien tun: mit mehr Lust an der Lösung als am Skandal. Nicht nur fragen: „Was läuft schief?“ Sondern auch: „Wie könnte es besser laufen?“ Und die Leser nicht mit dem Gefühl der Hilflosigkeit in ihren Alltag entlassen, sondern mit Ideen und konkreten Ansätzen, selber aktiv zu werden.

„Konstruktiver Journalismus“ nennt sich dieser Ansatz, der im englischen Sprachraum schon länger eine Größe ist, hierzulande aber noch keine wesentliche Rolle spielt. Und deswegen dem Publikum auch anfangs schwer zu vermitteln war: Monatelang tourte das vierköpfige Gründerteam durch die Republik, um auf Podiumsveranstaltungen klarzumachen, was das neue Medium denn nun genau anders machen würde. In dieser Phase war der erste Workshop mit den anderen Kreativpiloten sehr hilfreich, sagt Maren: „Wir haben aus dem Feedback der anderen gelernt, wie wir die Botschaft noch mal deutlich schärfen müssen.“

WIR WOLLTEN VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN UND ETWAS DAZU BEITRAGEN, DASS DIE MENSCHEN AUS IHRER FRUSTSPIRALE HERAUSKOMMEN

Die Unterstützung des Publikums war wichtig, denn für den Start von Perspective Daily brauchten die Gründer Abonnenten – 12.000, um genau zu sein. 12.000 Leser, die über eine Crowdfunding-Kampagne eingeworben werden sollten, eines der ehrgeizigsten Projekte dieser Art im deutschen Journalismus.

Es war schwieriger als erwartet. Obwohl Perspective Daily von Anfang an breite Unterstützung in der Medienbranche fand, seit Maren das Konzept auf der Ideenkonferenz TedX vorgestellt hatte. Und obwohl mit der Schauspielerin Nora Tschirner eine prominente Fürsprecherin an Bord war, die mit der Idee quer durch die TV- und Radiolandschaft tourte, von „Circus Halligalli“ über die Talkshow „3 nach 9“ bis zum damals noch „Sanft & Sorgfältig“ genannten Erfolgs-Podcast von Olli Schulz und Jan Böhmermann.

Im ersten Anlauf verfehlten die Gründer ihr Ziel und mussten die Kampagne um fünf anstrengende Wochen verlängern. Es hat dann doch geklappt, für ein Jahr ist Perspective Daily nun finanziert, konnte ein Redaktionsteam aufbauen und neue Räume in einem Münsteraner Gewerbegebiet beziehen. Aber viel Zeit zum Durchatmen ist immer noch nicht. Jetzt muss das Team beweisen, dass es jeden Tag einen Beitrag liefern kann, der die Crowdfunder überzeugt – und neue Leser anzieht, denn die Kundenbasis muss wachsen.

Von den Mitgliedern komme viel positives Feedback, sagt Maren: „Wir bekommen jeden Tag Mails von zufriedenen Lesern, die teils auch mithelfen wollen und Ideen einbringen.“ Das erste Branchenfeedback war dagegen eher durchwachsen: Anerkennung für die Idee und einzelne Beiträge, aber handwerklich noch nicht ausgereift und noch zu wenig klar, wohin die Reise geht, so die Kritik. Alles andere wäre aber auch überraschend gewesen. Nicht nur aufgrund der kritischen – manche würden sagen: missgünstigen – Grundhaltung der Branche. Sondern auch weil Perspective Daily etwas völlig Neues versucht: fünfmal die Woche ein Stück produzieren, das inhaltsstark ist und konstruktiv, ohne nach Sonnenschein-Journalismus zu klingen oder sich mit den Ideen und Aktionen gemeinzumachen, um die es in den Beiträgen geht – das ist Learning by Doing und eines der seltenen spannenden Experimente in der nicht eben innovationsfreudigen deutschen Medienlandschaft.

WIR GEHEN HIN ZU NEUEN FORMATEN, VON DENEN NOCH KEINER EINE AHNUNG HAT.

Learning by Doing prägt dieser Tage auch die Arbeit im Studio von Enrico Pallazzo. Eine weitere Parallele zu Perspective Daily: Auch für die Münchner TV-Produktionsfirma wurde im Kreativpiloten-Jahr alles anders. Zwar besteht Enrico Pallazzo schon seit 2012 und wurde für die Mediensatire-Serie „Walulis sieht fern“ bereits mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Aber im letzten Jahr stellte die „Gesellschaft für gute Unterhaltung“ alles auf den Kopf, sagt Mitgründer Klaus Kranewitter. „Wir gehen weg von den klassischen linearen TV-Kanälen, hin zu neuen Formaten, von denen noch keiner eine Ahnung hat.“

Der Grund ist ein neues Großprojekt: Enrico Pallazzo entwickelt eine Videoserie, die komplett für die Ausspielung über soziale Medien optimiert ist. Klingt einfach, erfordert aber ein komplettes Umdenken, sagt Klaus: „Alles, was wir uns für TV angeeignet haben, mussten wir auf den Prüfstand stellen. Was wir vor fünf Jahren noch geil fanden, finden wir jetzt nur noch laaaaangsam.“

Was für Enrico Pallazzo ein laufendes Experiment ist. Neue Konzepte wollen ausprobiert, neue Arbeitsabläufe entwickelt, getestet, verworfen und immer wieder verfeinert werden. Auch die Technik kommt auf den Prüfstand, unter anderem setzen die Macher beim Dreh kompakteres Equipment ein, das weniger Distanz zum Gegenüber aufbaut. „Und wir haben alleine 100 Leute gecastet auf der Suche nach Köpfen, die unsere Ideen gut umsetzen können.“ Leute, die nicht aus der klassischen TV-Ecke kommen und um die Ecke denken können bei Konzepten, Texten, Bildern und dem Spiel vor der Kamera.

Es sei ein großes Glück gewesen, dass die Kreativpiloten-Zeit genau in diese intensive Phase fiel, sagt Klaus. „Tatsächlich haben wir von keiner anderen Auszeichnung so sehr profitiert wie von dieser.“ Extrem hilfreich seien die Screenings gewesen: intensive Sitzungen mit erfahrenen Mentoren, die mit den Piloten ihre Geschäftsidee und Visionen durchsprechen und zusammen mit ihnen neue Perspektiven entwickeln: „Wie organisiere ich einen kompletten Umbau meiner Abläufe? Wie finde ich die richtigen Leute? Und wie erkenne ich, ob mir jemand Bullshit erzählt?“

Auch von den Workshops profitierte das Team – durch das Ideensparring mit den anderen Piloten und durch fachlichen Input: „Wir haben da zum Beispiel gelernt, dass unser wildes Rumwurschteln doch nicht kompletter Mist ist, sondern ein anerkanntes Prinzip in der modernen Unternehmensforschung. Man nennt es Effectuation.“

Anders ausgedrückt: anstatt alles auf Jahre hinaus zu planen, einfach machen – und neu machen, wenn es nicht klappt. Macht einen auch resistenter gegen unerwartete Krisen, wenn beispielsweise ein Großprojekt beim Kunden zwischenzeitlich mal in den Winterschlaf versetzt wird. Und für die Entwicklung zusätzlicher Geschäftsmodelle ist es ja ganz praktisch, dass Enrico Pallazzo gerade keinen Stein auf dem anderen lässt.

WIR WOLLEN KOMPLETT NEUE LERNWEGE ENTWICKELN, BEI DENEN INHALTE FÜR JEDEN SCHÜLER DIGITAL GENERIERT WERDEN.

Von neuen Abläufen mit neuer Technik können sie auch bei OnlineLessons.TV ein Lied singen. „Wir sind disruptiv, weil wir ganz anders mit Medien umgehen“, sagt Mitgründer Florian Alexandru-Zorn. „Wir haben das ja nie gelernt.“ Gerade hat das Medien-Start-up sich für sein Studio einen 180.000 Euro teuren Videomischer gekauft, wie er auch bei der „Tagesschau“ eingesetzt wird. „Die Fernbedienung dafür hätte noch mal 90.000 Euro gekostet. Und wir haben uns für einen Appel und ein Ei selber eine gebaut.“

Inzwischen würden auch klassische Produktionsstudios auf den unkonventionellen Player aus Neustadt an der Weinstraße aufmerksam und suchten den technischen Austausch, sagt Florian. Dabei würde man eine derartige technische Ausstattung und Kompetenz gar nicht erwarten bei einem Start-up, das mit einem vergleichsweise einfachen Produkt an den Markt gegangen ist: Lehrvideos für Musikschüler.

„Wir haben da schon einen anderen Standard als irgendwelche Youtube-Lehrvideos“, sagt Florian. Die Dozenten kommen aus renommierten Häusern wie der Popakademie Düsseldorf, und es gibt nicht nur Videokonserven, sondern auch Live-Streaming-Unterricht. „Über diesen Kanal können Lehrer und Schüler auch zusammen spielen, das würde per Skype nicht gehen, weil es da in der Übertragung Verzögerungen von 160 Millisekunden gibt.“

Der direkte Kanal zwischen Lehrern und Schüler steht im Mittelpunkt von OnlineLessons.TV – das auf Dauer weit mehr werden will als nur eine Musikschule. „Wir wollen komplett neue Lernwege entwickeln, bei denen Inhalte für jeden Schüler digital generiert werden, sodass jeder seinen eigenen, individuellen Lernweg hat.“

Ein Studium sozusagen, das sich live im Takt der Lernfortschritte des Studenten entwickelt – für diese Vision arbeitet OnlineLessons.TV mit dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) zusammen. „Hochschulen sind ja eher träge, als Start-up aber bist du klein und wendig und kannst einfach machen. Wir produzieren inzwischen Inhalte und sind der Tech-Hub für verschiedene Ausbildungseinrichtungen“, sagt Florian, der von der Bundesregierung in die Projektgruppe „Intelligente Bildungsnetze“ für den Nationalen IT-Gipfel 2016 berufen wurde.

HOCHSCHULEN SIND EHER TRÄGE, ALS START-UP ABER BIST DU KLEIN UND WENDIG UND KANNST EINFACH MACHEN.

Groß gedacht haben sie bei OnlineLessons.TV schon immer, ursprünglich wollten Florian und sein Mitgründer Marco Besler eine komplette Online-Universität gründen. „Da waren wir etwas blauäugig und wurden erst mal belächelt, als wir vor drei Jahren anfingen, bei Ministerien und Fördereinrichtungen vorzusprechen. Aber irgendwann hat man gemerkt: Die meinen das wirklich ernst.“

Dass man sich dann erst einmal auf das Thema Musikunterricht spezialisiert hat, liegt auch an den Kernkompetenzen der Gründer, die selber Musiker sind. Das Konzept findet auch internationale Beachtung, Anfragen kommen selbst aus China. Bei all diesen Aktivitäten waren vor allem die Screenings sehr hilfreich, sagt Florian: „Man entwickelt ja schnell eine Scheuklappenhaltung, da ist gut, sich mal in Ruhe zu fragen: Ist das das Richtige, was wir hier tun?“ Auch die Workshops mit den anderen Pilotenteams brachten neue Impulse, hier konnte OnlineLessons.TV viel gesammeltes Know-how über Online-Bezahlwege und Payment-Provider nutzen.

Inzwischen firmiert das Unternehmen als GmbH und hat 600.000 Euro Risikokapital eingeworben, unter anderem von der Landesbank Rheinland-Pfalz. Ein Schritt, von dem das Perspective Daily-Team noch weit entfernt ist. Gerade ist das Exist-Stipendium der Gründer ausgelaufen, mit dem die Bundesregierung Existenzgründungen aus der Wissenschaft unterstützt – für die promovierte Neurobiologin Maren Urner ein weiterer Schritt weg aus ihrem alten Leben als Forscherin in das neue als Unternehmerin. Ein Abschied, der ihr damals nicht leichtfiel: „Ich hatte ja schon elf Publikationen, und meine Laufbahn hat sich wie ein kleiner Teppich vor mir ausgerollt. Man lebt da in einer sehr schönen Blase und ist nur umgeben von Leuten, die clever sind.“

Warum also der Abschied damals? „So pathetisch es klingt, aber wir wollten Verantwortung übernehmen und etwas dazu beitragen, dass die Menschen aus ihrer Frustspirale herauskommen.“ Ob’s klappt? Einfach mal ausprobieren.