ANDERE WELTEN
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Fünf Tage lang war Köln ein einziges Computerspiel, die Straßen, Bahnen und Hotels voller Delegierter und Besucher der weltgrößten Spielemesse Gamescom. Und mittendrin drei untypische Vertreter ihrer Zunft: Die Start-ups Dear Reality, Ludinc und Birds and Trees erkunden mit ihren Games neue Märkte weitab des rummeltauglichen Mainstreams.

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Fünf Tage lang war Köln ein einziges Computerspiel, die Straßen, Bahnen und Hotels voller Delegierter und Besucher der weltgrößten Spielemesse Gamescom. Und mittendrin drei untypische Vertreter ihrer Zunft: Die Start-ups Dear Reality, Ludinc und Birds and Trees erkunden mit ihren Games neue Märkte weitab des rummeltauglichen Mainstreams.

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ndlich Urlaub. Eben stand Marc Kamps noch mitten in der Radauhölle der Gamescom. Vier Tage Vollprogramm auf der größten Spielemesse der Welt, Termin an Termin, Lärm, Messehallenluft, hastiges Essen im Stehen. Und jetzt mit Frau und Kind fünf Tage Rügen. Füße im Sand. Wahnsinn.

„Das ist mein erster Urlaub, seit, ja, ich glaube, seit 15 Jahren“, sagt Marc. Erst Studium, dann lauter lukrative Jobs als freier Games-Producer und dann sein eigenes Start-up. Birds and Trees heißt das Games-Studio, das Marc zusammen mit Bekannten gegründet hat. Und eigentlich passt es mal wieder gar nicht mit Urlaub, weil gerade so viel passiert: Die neue Auszubildende. Der neue Designer, der demnächst anfängt. Aber diesmal hat nicht nur seine Frau auf der Auszeit bestanden, sondern auch seine Mitgründer: Marc, deinem Kind geht es gerade gut, nimm dir mal die Zeit.

Marcs Kind hat Mukoviszidose, eine unheilbare Erbkrankheit, bei der sich an verschiedenen Organen ein zäher Schleim bildet, der ihre Funktion einschränkt. Lungenentzündungen, Osteoporose und Darmverschluss gehören zu den Symptomen der Krankheit, die je nach Patient ganz verschiedene Verläufe nehmen kann – und so individuell wie die Krankheit ist auch die Therapie, zu der Medikamente, Krankengymnastik und bestimmte Verhaltensregeln gehören.

UNSER SPIEL KOMMT AUF DEN ERSTEN GESUNDHEITSMARKT, DA GELTEN VÖLLIG ANDERE REGELN.

Und weil all das lebensnotwendig, aber alles andere als kindgerecht ist, haben Marc und seine Mitgründer Patchie erfunden, ein dreiäugiges, freundliches Monster, das im Smartphone lebt und seinen kranken kleinen Freund dabei unterstützt, sich an die Regeln zu halten, dank deren die durchschnittliche Lebenserwartung von Betroffenen inzwischen bei 40 Jahren liegt.

„Auf der Gamescom sind wir eigentlich Fremdkörper“, sagt Marc. Natürlich gibt es viele Anbieter von Serious Games, Spielen also, die einen therapeutischen oder Bildungszweck verfolgen. „Aber unser Spiel kommt als Medizinprodukt auf den ersten Gesundheitsmarkt, da gelten völlig andere Regeln. Wir brauchen eine Zulassung als Medizinprodukt.“

Krankenkassen sollen die Kosten dafür übernehmen, wenn ein Kind mithilfe von Patchie behandelt werden soll. Und dafür muss Birds and Trees mit einer klinischen Studie nachweisen, dass die spielerische App wirklich das Leben der Betroffenen verbessert. „Eigentlich sollte die Studie an der Charité im Oktober beginnen“, sagt Marc, „aber die formellen Hürden waren so hoch, dass wir jetzt erst im Januar 2017 starten können.“

Solche formalen Hürden seien sie mittlerweile gewohnt, sagt Marc und lacht. „Wenn wir zehn Zeilen Code ändern, müssen wir 30 Seitem Dokumentation schreiben.“ Wie ungewöhnlich dieser Markt ist, hat er auch in den Workshops mit den anderen Kultur- und Kreativpiloten erlebt: „Wir haben da schon sehr spezielle Probleme, aber zum Glück sind wir im Team auch sehr breit aufgestellt, was die Kompetenzen angeht. Das ist uns gerade im Gespräch mit den Piloten aufgefallen, die als Einzelkämpfer unterwegs sind.“

Durch die Auszeichnung sei im letzten Jahr vieles leichter gelaufen. Nicht nur wegen des „super Netzwerks, das sich aus dem Programm heraus entwickelt hat“. Auch das Image der Auszeichnung sei sehr nützlich gewesen – gerade bei Verhandlungen mit großen Unternehmen: „Die Pharmabranche ist ja eher konservativ und weiß nicht so recht, wie sie mit dem Thema Digitalisierung umgehen soll.“ Dass ein klassisches Games-Studio hier ein guter Partner sein kann, sei vielen Konzernvertretern erst einmal nicht klar – so eine Auszeichnung der Bundesregierung liefere da schon einen gewissen Vertrauensvorschuss.

ES HILFT EINFACH, WENN DIR JEMAND BESTÄTIGT, DASS DU DICH NICHT IN EINE FANTASIEWELT HINEINARBEITEST.

Was es heißt, sich mit Spielen an einer traditionellen Branche abzuarbeiten, weiß auch Jan von Meppen. Er hat es mit dem föderalen deutschen Bildungssystem zu tun, „und das ist eines der schwierigsten auf der ganzen Welt“, sagt der Gründer des Games-Start-ups Ludinc. „Vier Jahre muss man hier schon rechnen, um ein Produkt zu platzieren.“

„Professor S.“ heißt Ludincs erstes Lernspiel, eine komplexe Multimedia-Inszenierung, bei der ganze Schulklassen in eine Geschichte um den zeitreisenden Professor S. und seine Assistentin Jeanette hineingezogen werden, die ihnen in Videoclips begegnen – und mit denen sie per Laptop, Videobotschaft und auf allerlei anderen Wegen kommunizieren und interagieren, um die Geschichte gemeinsam voranzutreiben.

Die interaktive Simulation hat zwar schon den deutschen Computerspielpreis gewonnen, aber auch Jan fühlt sich inzwischen auf der Gamescom nicht mehr ganz zu Hause. „Das wird wiederkommen, wenn wir von ,Professor S.‘ eine Einzelspielvariante entwickelt haben“, sagt er.

Das Konzept dafür steht schon, aber momentan bindet immer noch der Schulmarkt alle Energien – eine ganz, ganz andere Welt, weitab von den hochgerüsteten Konsolen und PCs der modernen Spielebranche. „Man glaubt ja gar nicht, wie veraltet die Computerausstattung an vielen Schulen ist“, sagt Jans Mitgründerin Roshanak Behesht Nedjad. „Und dazu kommen die wahnsinnig langen Anschaffungszyklen, da wird im 24-Monats-Takt entschieden.“

Was nicht nur viel Zeit und Kraft kostet, sondern auch Geld. Die Finanzierung ist ein Dauerthema bei Ludinc, lange Zeit stütze sich das Start-up auf einen Förderkredit, der zwar die nötige Grundausstattung lieferte – aber das junge Unternehmen auch forderte. „Wir mussten zum Beispiel von einem Teil des Gelds feste Arbeitsplätze schaffen, obwohl wir eigentlich eher lean unterwegs sind“, sagt Roshanak. „Ohne diese Auflagen hätten wir effektiver arbeiten können.“

MAN GLAUBT JA GAR NICHT, WIE VERALTET DIE COMPUTERAUSSTATTUNG AN VIELEN SCHULEN IST.

Und auch dieses Geld ist endlich – in diesem Herbst wäre es für Ludinc eng geworden, wenn nicht ein neuer starker Partner dazugekommen wäre. „Wir verhandeln gerade mit Westermann über eine Vertriebspartnerschaft“, sagt Jan. Der Schulbuchgigant will „Professor S.“ in sein Sortiment aufnehmen, ein enormer Schub für die Gründer, die sich in den Workshops mit den anderen Kreativpiloten immer wieder die Bestätigung holten, dass sie auf dem richtigen Weg sind. „Was sind eigentlich unsere Assets? Wie müssen wir uns strukturieren? Wo müssen wir in unserer Kommunikation besser werden? Dass wir solche Fragen in einem angstfreien Raum ganz offen diskutieren konnten, hat uns als Unternehmer extrem weitergebracht.“

Auch die Screening-Sitzungen mit den Mentoren seien wichtig gewesen: „Wir haben da gezielt an Themen wie der Finanzierung gearbeitet und konnten auch von den guten Kontakten unserer Mentoren profitieren“, sagt Jan. „Und abgesehen davon hilft es einfach, wenn dir jemand bestätigt, dass du dich nicht in eine Fantasiewelt hineinarbeitest.“

Anerkennung für die Arbeit von Ludinc kommt inzwischen von vielen Stellen, so hat das Goethe-Institut Jan für den November nach Brasilien zu einer Games-Veranstaltung eingeladen.

In den kommenden Monaten wollen Jan und Roshanak neues Material für „Professor S.“ drehen, los geht es mit einem viermonatigen „Writers‘ Room“, einer intensiven Kreativphase, in der Autoren Ideen ausarbeiten, verwerfen, pitchen und überarbeiten.

Und auch technisch will Ludinc Neues ausprobieren: „Wir denken auch an Augmented-Reality-Anwendungen als Teil von ,Professor S.‘“, sagt Jan, „dass man also die Umgebung durch die Smartphone-Kamera beobachtet und da im Bild Dinge eingeblendet werden. Kennt man inzwischen ja von ,Pokémon Go‘.“

Und Virtual-Reality-Anwendungen? „Habe ich auf der Gamescom auch viel gesehen, superspannend, aber für uns noch nicht ausgereift genug“, sagt Jan und lacht. „Mir wird unter der Brille immer noch schlecht.“

WIR HABEN DIE BESTÄTIGUNG DAFÜR BEKOMMEN, DASS UNSERE ARBEITSWEISE SINNVOLL IST.

Das Gefühl kennt Christian Sander: Wenn die simulierten Bewegungen in der virtuellen Welt nicht mit der des eigenen Körpers zusammenpassen, kommt das Gehirn ins Schleudern. Im ersten VR-Spiel seines Start-ups Dear Reality droht diese Gefahr aber nicht: Es basiert auf der Vive-Plattform des Herstellers HTC, bei dem Spieler nicht nur eine VR-Brille aufhaben, sondern auch von zwei Infrarotkameras erfasst werden, die jede Körperbewegung messen und in die Simulation übertragen.

Die hier in einem Konzertsaal stattfindet. „Dear Maestro“ heißt das Musikspiel, bei dem man als Dirigent ein virtuelles Orchester anleitet. Und sich so ohne jede musikalische Vorbildung, ohne je ein Instrument gespielt zu haben, Schritt für Schritt die Komplexität einer Komposition wie „Schwanensee“ erschließen kann. Und erlebt, wie beglückend es ist, wenn aus vielen Einzelstimmen ein erhabenes Ganzes wird.

„Dear Maestro“ ist mithilfe einer Förderung der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen entstanden, „aber das Geld hat nicht weit gereicht“, sagt Christian, „wir haben da noch sehr viel zusätzliche Arbeit reingesteckt“. Auf der Gamescom haben sie zum ersten Mal den Prototyp vorgestellt und waren überwältigt von den Reaktionen. „Das ging von morgens zehn bis nachts um eins“, sagt Christian, „dazwischen konnten wir höchstens mal kurz auf Klo oder kurz ‘ne Currywurst essen.“

Was „Dear Maestro“ so besonders macht, ist die Klangtechnologie, die Dear Reality entwickelt hat. „DearVR“ heißt das Softwarepaket, mit dem Spieldesigner dafür sorgen, dass in virtuellen Welten auch der Ton lebensecht wirkt – indem er sich immer danach verändert, wie sich der Spieler gerade bewegt. „Wenn ich den Kopf von einer Schallquelle wegdrehe, muss sich das im Klang ausdrücken,“ sagt Sander. „Dafür muss man schon bei der Aufnahme und bei der Produktion ganz anders denken als bei normalen Games, wo es immer nur darum geht, dass der Klang fett und dicht ist.“

Den „großen, reichen Publisher“ hätten sie auf der Gamescom zwar noch nicht getroffen, sagt Sander. „Aber wir haben so viel gutes Feedback bekommen, dass wir uns jetzt noch mal zwei Monate Zeit geben, an dem Spiel zu basteln.“Geld verdienen Dear Reality bereits jetzt, nicht nur mit Lizenzen für ihre Soundengine DearVR, die sie als Softwarebibliothek anderen Designern zugänglich machen. Auch mit Auftragsproduktionen für Spielehersteller und andere Auftraggeber. Ein solides Geschäft, aber kein Boom, wie der aktuelle Hype um Virtual-Reality-Brillen glauben machen könnte: „Mein Eindruck ist, dass das eine Ergänzung der bisherigen Spielewelt wird“, sagt Christian. „Aber es wird nicht alles andere vom Markt fegen.“

ZU ALLEM, WOMIT WIR STRESS UND PROBLEME HATTEN, KONNTEN UNS DIE MENTOREN ETWAS SAGEN.

Eine Auftragsproduktion war auch einst die Geburtsstunde des Start-ups: „39“, ein klanggetriebenes Krimi-Game für den WDR, bei dem Christian und sein Mitgründer zum ersten Mal zeigten, wie sie lebensechte Klangwelten bauen können.

„Wir machen alles Mögliche und bewegen uns von einer Chance zur anderen“, sagt Christian, „und in den Piloten-Workshops haben wir auch die Bestätigung dafür bekommen, dass das eine sinnvolle Arbeitsweise ist, für die es auch einen Fachausdruck gibt: Effectuation.“ Was sehr vereinfacht bedeutet: sich nicht an einen einmal vorgezeichneten Weg zu klammern, sondern bereit zu sein, neue Chancen zu ergreifen und neue Partnerschaften einzugehen. Gerade in Krisenphasen, wie sie fast jedes Start-up einmal durchmacht, gewinnen viele Gründer durch dieses Denken dringend benötigte Leichtigkeit und Entscheidungsfähigkeit zurück.

Und entdecken neue Partnerschaften, an die sie vorher gar nicht gedacht hätten: „Wir haben zum Beispiel großartige Gespräche gehabt mit den Leuten vom Klassik-Streamingdienst Grammofy. Es gibt so viele Schnittstellen zwischen dem, was wir machen, das ist perfekt!“ Dazu sei der sehr handfeste Nutzen gekommen, den das Team aus den Screening-Gesprächen gezogen habe: „Zu allem, womit wir Stress und Probleme hatten, konnten die was sagen. Mitarbeiterführung zum Beispiel, damit haben wir uns sehr schwergetan und gute Tipps von Michael Bleks bekommen.“

Aber auch der Imagegewinn durch die Auszeichnung als Kultur- und Kreativpiloten habe das Start-up vorangebracht, sagt Christian. „Auf der Preisverleihung ist gleich eine Vertreterin des Wirtschaftsministeriums Nordrhein-Westfalen auf uns zugekommen, die hat dann ihren Staatssekretär zu uns gebracht, und am Ende haben sie uns nach Austin zur Musikmesse South by Southwest mitgenommen, wo wir im ‚German Haus‘ DearVR vorstellen konnten. Das war der Wahnsinn.“

Mit einem Stapel neuer Kontakte und sehr viel Aufmerksamkeit für ihre Technik sind die Gründer zurück nach Düsseldorf gefahren, in ihre unscheinbare Straße mit ihren unscheinbaren Nachkriegsbauten, die so ganz weit weg sind vom Glamour der internationalen Musik- und Games-Welt. Aber nach so einem wahnsinnigen Messetag kann diese Realität ja auch ganz erholsam sein.